Samstag, 16. Juni 2012

Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren... - Hermann Kasack 'Die Stadt hinter dem Strom'

Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom
Suhrkamp Verlag, Berlin, 1948 (Erstausgabe)
Und wieder einmal ein Buch, das aktuell nicht verlegt wird und nur über das Antiquariat zu beschaffen ist. Eigentlich unverständlich, denn das Buch, um das es heute geht, war bei seinem Erscheinen unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg ein großer Erfolg und wurde bereits in den 1950er Jahren in zahlreiche Sprachen übersetzt, so dass es auch heute noch leicht seine Leser finden würde. Aber bevor wir weiter darüber nachgrübeln, warum der Suhrkamp Verlag dieses "Schätzchen" aktuell nicht mehr in seinem Verlagsprogramm führt, kommen wir besser zum Thema. Vor gut einem Jahr war mir weder der Name des Autors Herman Kasack ein Begriff, noch hatte ich etwas von seinem Roman "Die Stadt hinter dem Strom" gehört. Tatsächlich stand mein freundlicher Nachbar Andreas eines Tages vor der Türe und drückte mir das Buch in der Erstausgabe von 1948 in die Hand. Wir hatten uns kurz zuvor über Alfred Kubin, den genialen Illustrator der Geschichten Edgar Allan Poes, und dessen phantastischen Roman "Die andere Seite" unterhalten [1] [2]. Wenn mir Kubin gefallen hätte, dann müsste ich unbedingt Hermann Kasack lesen, insbesondere da der Roman auch hier in Potsdam zu Ende geschrieben worden sei. Es sollte aber noch einige Zeit ins Land gehen, bis ich mir die Zeit nahm, dieses ungewöhnliche Buch endlich zu lesen...

Wir begegnen zunächst dem Erzähler Dr. Robert Lindhoff, seines Zeichens Alt-Orientalist, der mit dem Zug in die "Stadt hinter dem Strom" reist. Aus seinen ersten Schilderungen der zerstörten Häuser und ihrer armseligen Bewohner fühlt man sich sofort an das zerbombte Deutschland der Stunde Null, direkt nach Ende des zweiten Weltkriegs erinnert. Dabei begegnet der Erzähler zunächst seinem Vater, den er eigentlich für tot gehalten hatte, bevor er sich auf den Weg zur geheimnisvollen Präfektur macht, wo man ihn bereits erwartet. Dort wird ihm sein Auftrag eröffnet, die freie Stelle als Archivar und Chronist anzutreten. Seine Aufgabe sei es, die Stadt zu durchwandern und alle seine Eindrücke und Erfahrungen für die Nachwelt als Chronist festzuhalten. Allerdings ist diese "Stadt hinter dem Strom" wirklich eine seltsame Stadt. Ihre Bewohner gehen oft sinnlosen, mechanischen Tätigkeiten nach ohne darüber nachzudenken, und scheinen allesamt gelenkt durch eine unbestimmte und geheimnisvolle Macht.
„Ich sah die Flächen einer gespenstischen Ruinenstadt, die sich ins Unendliche verlor und in der sich die Menschen wie Scharen von gefangenen Puppen bewegten.“
Bei seinen Streifzügen durch die Stadt trifft Robert Lindhoff auf seine Freundin Anna. Eigentlich war Anna verheiratet - wie auch Robert - und interessanterweise vertritt gerade sein totgeglaubter Vater Anna in ihrem endlos sich hinziehenden Scheidungsprozess als Anwalt - ohne zunächst genau über Roberts und Annas Verhältnis Bescheid zu wissen. Eine seltsame Kombination. Es kommt noch seltsamer, denn durch Anna erkennt Robert, dass er tatsächlich als einziger Lebender in einer Stadt der Toten unterwegs ist.
"Ich empfinde, sagte sie in einem singenden Tonfall, keinen Unterschied mehr. Träumen und Wachen, es ist nur eine verschiedene Drehung des Kreises, in dem wir uns bewegen. Du weißt es auch. Bilden wir uns nicht ein, dass wir leben, und in Wahrheit - "
Herman Kasack scheint das Buch unmittelbar unter dem Eindruck des Krieges und der Nachkriegszeit geschrieben zu haben und führt uns durch seine seltsame Welt in einer trüben, melancholisch depressiven Stimmungslage. Das Unwirkliche, teils durch die manchmal antiquiert verkomplizierte Sprache oder durch die pessimistisch gezeichneten Bilder und ihre tief melancholischen Figuren, verfolgt den Leser auf Schritt und Tritt, so dass diesem bereits von Anfang klar ist, dies ist kein realistischer, sondern vielmehr ein phantastischer Roman. Dabei spielt Kasack natürlich auch auf die Jenseitsfahrten und -visionen der griechischen Antike (Orpheus und Euridike) oder die eines Dantes (Die göttliche Kommödie) an. Der Strom, hinter dem die Stadt liegt, verweist eindeutig auf Lethe, den Strom des Vergessens, aus dem die Verstorbenen einen Schluck nehmen mussten, um ihr vorheriges Leben zu vergessen, bevor sie wiedergeboren werden konnten.
"Nicht um euretwillen kehrt zurück, wie ihr einmal wolltet, sondern um der Lebenden Willen. Geht als Geister in ihre Träume ein, ergreift von ihrem Schlaf Besitz, jenem Zustand, der dem Euren so ähnlich ist! Dort erscheint ihnen als mahnende Stimmen, als warnende und fordernde Stimmen und wenn es not tut als Plagegeister. Ihr haltet den Schlüssel des Gerichts in Euren Händen."
Das Unwirkliche, das dem Leser auf Schritt und Tritt verfolgt und die seltsam, geradezu schlafwandelnden Bewohner der Stadt, die von der allmächtigen, aber noch viel unwirklicher erscheinenden Präfektur gelenkt weden, erinnern an die beklemmenden Szenarien aus Kafkas 'Das Schloß' oder 'Der Process'. So zählt 'Die Stadt hinter dem Strom' zu den Werken der sogenannten 'inneren Emigration'. Anders als viele seiner Schriftstellerkollegen, die zu dem Regime in Opposition standen, konnte sich Kasack während der Zeit des Nationalsozialismus nicht zur Emigration aus Deutschland entschließen.

Am Ende des Buches schließt sich der Kreis, den der Erzähler beschreitet, und er kehrt erneut wieder in die Stadt hinter dem Strom zurück. Diesmal sitzt er als 'rechtmäßiger' Passagier im Zug, denn als Toter überquert er nun die Brücke über den Strom....

Fazit: Bedeutende deutsche Nachkriegsliteratur und ein in der Tradition der Phantastik stehender Roman, der unbedingt wieder verlegt werden sollte. LESEN! 


Referenzen:




Hermann Kascak
Die Stadt hinter dem Strom
Suhrkamp Verlag, Berlin, 1948
600 Seiten
(aktuell nur antiquarisch erhältlich)