Samstag, 3. März 2012

Sprachkünstlerisch wertvolle Vergangenheitsbewältigung - Günther Grass 'Die Blechtrommel'

"Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann."(Seite 7)

Das, Herrschaften, ist ein fulminant wuchtiger erster Satz in einem nicht minder gewichtigen Roman von Format, der Appetit auf mehr macht. Es dämmert einem recht schnell, warum "Die Blechtrommel" zur Zeit ihres Erscheinens so viel Wirbel machte und warum ihr Autor Günter Grass schlussendlich auch in den Nobelpreishimmel erhoben werden musste. Ihr Protagonist, Oskar Matzerath der Zwerg, ist heute genauso eine Literaturikone wie Gregor Samsa als gewaltiger Käfer, Hans Castorp als lungenkranker Sanatoriumsgast, Quasimodo als glockenschwingender Buckliger oder Humbert Humbert auf der Suche nach kleinen Mädchen.
"Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen. Noch heute kommt mir deshalb der Bibeltext: "Es werde Licht und es ward Licht" - wie der gelungenste Werbeslogan der Firma Osram vor." (Seite 47)
Oskar Matzerath gehört, wie er uns selbst erzählt, zu den "hellhörigen Säuglingen, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist". So beäugt er von Anfang an kritisch kommentierend die Welt der Erwachsenen und lässt sich auf das Abenteuer "Leben" erst ein, als seine Mutter Agnes verspricht "Wenn der kleine Oskar drei Jahre alt ist, soll er eine Blechtrommel bekommen." Erzählt wird hier also die Lebensgeschichte des Gnoms Oskar Matzerath, geboren in Danzig, der beschließt, an seinem dritten Geburtstag das Wachstum einzustellen und fortan in trommelnder Manier den Gang der Geschichte kommentierend zu begleiten, d.h. in unserem Falle das Aufkeimen des Nationalsozialismus, den zweiten Weltkrieg bis hin zur Einnahme Danzigs durch die Rote Armee und die frühe Nachkriegszeit mit ihrem Wirtschaftswunder im westdeutschen Rheinland.

Wie so viele andere auch, kannte ich bis vor kurzem lediglich den großartigen Film Volker Schlöndorffs, der mich schon als Kind beeindruckt hat - und das nicht nur wegen der darin dargestellten freizügigen Szenen. Bildgewaltig kommt der Film daher und ebenso einprägsame, lebendige Bilder, die vermag Grass nur zu gut in seinem Roman zu zeichnen. Man denke nur an die Szene vom Sonntagspaziergang der Familie Matzerath zusammen mit Oskars Onkel Jan Bronski, der ein Verhältnis mit dessen Mutter hatte und eigentlich auch als Oskars wahrer Vater gilt. Ein Fischer am Strand zieht einen Pferdekopf an einem Seil aus den Fluten der Ostsee, den er als Köder für Aale genutzt hatte - und das Bild mit dem halbverwesten Pferdekopf aus dessen Nüstern sich die Aale schlängeln ist mir ebenso wie die daraufhin sich übergebende Agnes Matzerath im Gedächtnis geblieben. Übrigens erholt sich Agnes, deren Mann Alfred  - ein begnadeter Hobbykoch - dem Fischer die Aale abkauft und diese zum Mittagessen serviert,   daraufhin nicht mehr wirklich und frisst sich an Fisch zu Tode bzw. stirbt an einer Fischvergiftung.

Auf gut 700 Seiten durchlebt der Leser alle Stationen in Oskars Leben bis hin zu seiner Einlieferung in die anfangs erwähnte Heil- und Pflegeanstalt. Dieses hier detailliert nachzuerzählen überlasse ich gerne berufeneren Geistern, da ohnehin schon genügend Zusammenfassungen dieses Romans kursieren. Aber die knappste und prägnanteste aller Kurzfassungen liefert uns Oskar selbst in Form eines Glaubensbekenntnisses am Ende des Romans:
"Was soll ich noch sagen: Unter Glühbirnen geboren, im Alter von drei Jahren vorsätzlich das Wachstum unterbrochen, Trommel bekommen, Glas zersungen, Vanille gerochen, in Kirchen gehustet, Luzie gefüttert, Ameisen beobachtet, zum Wachstum entschlossen, Trommel begraben, nach Westen gefahren, den Osten verloren, Steinmetz gelernt und Modell gestanden, zur Trommel zurück und Beton besichtigt, Geld verdient und den Finger gehütet, den Finger verschenkt und lachend geflüchtet, aufgefahren, verhaftet, verurteilt, eingeliefert, demnächst freigesprochen, feiere ich heute meinen dreisigsten Geburtstag und fürchte mich immer noch vor der Schwarzen Köchin - Amen." (Seite 709)
Ganz großes Kino, aber durchaus keine leichte Kost und vor allen Dingen doch auch Geschmacksache. Nicht jeder vermag der Grass'schen Schilderung der piefigen NS-Zeit im heute polnischen Danzig mit seinen bis zur Karikatur verzerrten Romanhelden etwas abzugewinnen. Doch sprachlich und erzählerisch setzt Grass in meinen Augen Maßstäbe - auch wenn dies bestimmt nicht für alle der mehr als 700 Seiten des Romans gelten mag. Mit dem Katholizismus muss Grass wohl auf Kriegsfuß stehen, lässt er doch kaum ein gutes Haar daran. Oskar selbst bleibt eine Zerrfigur, der alles verneinende Gnom, in dessen Welt sich eine kindliche Sicht der Dinge mit Altklugheit und Boshaftigkeit abwechselt, und der an seiner Welt letztendlich scheitert.

Fazit: Große Literatur, große Sprachgewalt. Ein Meilenstein in der deutschen Literaturgeschichte. Alleine schon aus diesem Grunde: LESEN!

Günter Grass
Die Blechtrommel
dtv (1993)
784 Seiten
12,90 Euro