Samstag, 24. März 2012

Ein Plädoyer für die Exzentrik - Fredrik Sjöberg 'Der Rosinenkönig'

...oder Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen. So ist der Roman übertitelt, um den es heute gehen soll, und er erzählt von einem - nein eigentlich sogar von zwei Sonderlingen und vom Glück, sich ganz und gar in einer Sache verlieren zu können. Es kann -- und sollte -- ja nicht jeder nur im Durchschnitt bzw. (neudeutsch) "Mainstream" verweilen und so profanen Dingen nachgehen wie Fußball spielen, Briefmarken sammeln oder Kriminalromane lesen. Mainstream kann jeder. Die Nische oder vielmehr der "Longtail" wie es der Web2.0-affine heute bezeichnet, birgt ungeahnte Möglichkeiten. Also nur Mut...
"Kein Normalsterblicher erinnert sich heute noch an Gustaf Eisen."(Seite 154)
Fredrik Sjöberg erzählt in seinem Roman "Der Rosinenkönig" eigentlich erst einmal von sich selbst, obwohl er eigentlich die Biografie des heute bei uns absolut unbekannten schwedischen Naturforschers Gustaf Eisen schreiben will und dabei ständig abschweift. Das verbindende Element zwischen den beiden ist denn auch ihre Vorliebe für das Besondere. Schwebfliegen...(hier lasse ich erst einmal eine bedeutungsschwangere Atempause)... Schwebfliegen sind es, die es dem insektensammelnden Autor angetan haben und wie besessen ist er ständig bestrebt, seine umfangreiche Sammlung durch die seltensten Exemplare zu ergänzen. Und auch Gustaf Eisen (1847-1940) war neben vielen anderen Dingen auch ein bedeutender Schwebfliegensammler. Und als Schwebfliegenafficionado gleichwie als Insektensammler ist man vor allen Dingen eines, nämlich akribisch und genau.
"Genauigkeit", kommentierte meine Handarbeitslehrerin freundlich, "ist löblich, kann aber sehr leicht übertrieben werden" (Seite 10)
Mit dieser Eingangsfeststellung schließt uns Fredrik Sjöberg die Türe auf zu einer faszinierenden Gestalt mit noch faszinierenderen Interessen und Neigungen. Gustaf Eisens wissenschaftliche Karriere begann schon in sehr jungen Jahren. Kaum hatte er die Schule beendet, veröffentlichte er zusammen mit seinem besten Freund Anton Stuxberg, mit dem er zusammen die Fauna (natürlich auch die Insekten) der Ostseeinsel Gotska Sandön erkundet hatte, zwei Bücher in der königlichen Akademie der Wissenschaften. Im anschließenden Studium der Biologie erwachte sein besonderes Interesse für ...(Trommelwirbel)... Regenwürmer, deren Erforschung er sich forthin verschrieb.
"Die Würmer haben kein Gehör. Sie nahmen keinerlei Notiz vom durchdringenden Laut einer Trillerpfeife, die mehrmals neben ihnen ertönte, ebensowenig von den tiefsten und lautesten Tönen eines Fagotts. Sie reagierten nicht auf Schreie, wenn man darauf achtete, dass der Luftstrom sie nicht traf. Wenn man sie auf einen Tisch neben der Klaviatur eines Pianos legte, auf dem man möglichst laut spielte, blieben sie vollkommen ruhig."(Seite 99)
Eisens bahnbrechende Forschung auf dem Gebiet der Regenwürmer sollte sogar noch vom großen Charles Darwin zitiert werden, was einem Ritterschlag gleichkam. Seine weitere Forschungsarbeit verschlug ihn nach Kalifornien, auf die andere Seite der Welt. Er erforschte die damals noch unbewohnte Insel Santa Catalina Island und ging auf Entdeckungsreise in die Sierra Nevada. Als er nach einer Fehlinvestition nahezu mittellos dasteht, begann er zunächst 1880 mit dem Weinbau in Kalifornien, machte einen erfolglosen Abstecher als Tabakpflanzer und landete schließlich den großen Wurf in der Kultivierung und Produktion von Rosinen, worüber er 1890 ein weltweit gültiges Standardwerk verfasste.

Doch damit nicht genug. Eisen rettete die kalifornischen Mammutbäume im Sequoia Nationalpark durch persönliche Intervention beim amerikanischen Präsidenten vor der drohenden Abholzung, er stieg auf zum Abteilungsleiter der Californian Academy of Sciences, gab den Posten um die Jahrhundertwende dann wieder auf und eröffnete ein Fotoatelier in San Francisco. Beim schweren Erdbeben von 1906 verlor er erneut alles, seine Bibliothek, seine Sammlung und seine umfangreiche Korrespondenz. Aber ein Gustaf Eisen gibt nicht auf und sucht sich etwas Neues. So reiste er für die Milliardärsgattin, Sammlerin und Mäzenatin Phoebe Hearst durch die ganze Welt, um Antiquitäten für sie zu erwerben. Dabei entdeckte er auch 1915 in einem New Yorker Antiquitätengeschäft einen antiken Kelch aus Antiochia, den er -- es musste ja so kommen -- nach ausgiebigem Studium als den heiligen Gral identifizierte. Eisen publizierte noch bis ins hohe Alter und galt nebendem noch als Experte für antike Glaskunst und die Porträts George Washingtons.

Auch wenn ich schwedischen Autoren generell etwas reservierter gegenüberstehe, hat mich die Lektüre dieses kleinen Büchleins doch auch in ganz besonderer Weise berührt. Nein, ich zähle nicht zum exklusiven Club der Insektensammler -- ist es mir doch zuwider, nur zum Zwecke der Erweiterung meiner persönlichen Sammlung, kleine Tierchen auf Nadeln aufzuspießen und deren Leichen abzuheften. Aber wer von uns fühlt sich nicht manchmal auch als Sonderling zwischen all den Angepassten und Normalen dieser Welt. Ganz egal, wofür unser Herz schlägt, wenn schon, dann sollten wir uns mit Haut und Haaren darauf einlassen. Denn das hat mir das Beispiel des schwedischen Sonderlings gelehrt, auch wenn Fredrik Sjöberg am Ende resumiert
"Irgendetwas an der Kombination von Insekten und Sammeln wirkt auf Frauen extrem abschreckend. Die Insekten selbst trifft meines Erachtens keine Schuld und das Sammeln an sich, die wahre Knopfologie, im Grunde auch nicht, sondern diese spezielle Kombination. Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass die Frauen gute Instinkte haben..."(Seite 167)
Fazit: In liebenswerter Detailfülle erzähltes kleines Büchlein über einen heute vergessenen bemerkenswerten Sonderling, der uns mit seiner Liebe zum Detail und seinen "Stehaufmännchenqualitäten" auch heute noch durchaus zum Vorbild gereicht. Lesen!


Fredrik Sjöberg
Der Rosinenkönig - oder Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen
Verlag Galiani Berlin (2011)
236 Seiten
18,99 Euro





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