Samstag, 24. September 2011

Tiefgründig, anrührend und nostalgisch - Harper Lee "Wer die Nachtigall stört"

Natürlich hatte ich den allseits wohlbekannten Film mit Gregory Peck schon gesehen, als ich noch ein Kind war. Eine dieser typischen alten Südstaatengeschichten, von Apartheit und Rassismus, von 'anständigen Leuten', altehrwürdigen Familien und den Verlierern der damaligen Wirtschaftskrise. Alles schon tausendmal gesehen und gehört. Was diesen Roman aber so anders macht und ihm einen überaus bemerkenswerten Charme verleiht, ist die Perspektive, aus der er erzählt wird. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das in einer Kleinstadt im Alabama der 1930er Jahre aufwächst und die ihre Lebenswelt mit den interessierten Augen des neugierigen und unvoreingenommenen Kindes wahrnimmt.

Die neunjährige Scout -- eigentlich Jean Louise Fink ('Finch' im englischen Original) -- und ihr vier Jahre älterer Bruder Jem wachsen in der Obhut ihres Vaters, des Anwalts Atticus Fink und der schwarzen Haushälterin Calpurnia, in der heilen Kleinstadtwelt Alabamas auf. Der Mikrokosmos dieser kleinen Stadt ist für Scout noch ein magischer, oftmals rätselhafter Ort, insbesondere, da sie die Erwachsenen noch nicht verstehen kann. So sind sie und ihr Bruder Jem fasziniert und verängstigt zugleich, wenn es um den mysteriösen Nachbarn Boo Radley geht, der niemals das Haus verlässt, oder wenn sie von den 'fußwaschenden Baptisten' hören, denen alles, was Freude macht, als verdammenswert gilt.
"Dill?""Hm?""Warum ist wohl Boo Radley nie weggelaufen?"Dill stieß einen tiefen Seufzer aus und drehte sich auf die andere Seite."Vielleicht hat er nichts, wo er hinlaufen kann..." (Seite 193)
Erst recht kann Scout nicht verstehen, dass ihr Vater plötzlich zum Schandfleck der Familie wird, als er zum Pflichtverteidiger des schwarzen Farmarbeiters Tom Robinson berufen wird, der ein weißes Mädchen vergewaltigt haben soll. Da Atticus auf dem Standpunkt steht, dass ein Schwarzer vor dem Gesetz gleichberechtigt zu behandeln ist, wird er von einem Großteil der Lokalbevölkerung angefeindet -- und das bekommen auch die Kinder deutlich zu spüren. So dringt mehr und mehr eine ahnungsvolle Furcht in die Welt der beiden Geschwister ein und Atticus hat seine liebe Not, Scout und Jem durch die Spannungen und Widersprüche der sie umgebenden purtanisch und rassistisch gefärbten Welt zu führen.
"Dein Vater hat recht...Nachtigallen erfreuen uns Menschen mit ihrem Gesang. Sie tun nichts Böses, sie picken weder Saat aus dem Boden noch nisten sie in Maisschuppen, sie singen sich nur für uns das Herz aus der Brust. Darum ist es Sünde, eine Nachtigall zu stören." (Seite 124)
Als es dann endlich zum Prozess kommt, gelingt es Atticus, die gegen Tom Robinson vorgebrachten Anschuldigungen zu entkräften, doch hat er gegen die konservative Jury keine Chance, die dem ungeschriebenen und althergebrachten Gesetz folgt, dass die Aussage eines Weißen gegenüber der eines Schwarzen nie angezweifelt werden darf. Atticus ist verzweifelt, da er den darauf folgenden Justizmord nicht verhindern konnte. Durch sein Engagement in Prozess zieht sich Atticus allerdings auch den Hass des Vaters des vorgeblichen Vergewaltigungsopfers zu, der fortan ihm und seinen Kindern nachstellt. Dabei kommt es beinahe zum Äußersten.

Der wunderschön geschriebene (und ins deutsche übersetzte) Roman hat mich tief bewegt und ist für mich in eine Reihe zwischen Mark Twains 'Tom Sawyer und Huckleberry Finn' und J.D. Salingers 'Der Fänger im Roggen' einzuordnen. Die Rassenthematik wurde aus ähnlicher Perspektive von Mark Twain aufgegriffen, während das Thema Kindheit vs. Erwachsenenwelt bei Salinger zu Tage tritt. Die Romanheldin Scout bieten uns einen unvoreingenommenen Blick auf eine Zeit und eine Gesellschaftsordnung, deren Nachwirkungen auch heute noch nicht vollständig überwunden sind und die immer wieder von Neuem zu Tage treten. Vor über 50 Jahren erschien Harper Lees einziger Roman, der noch im gleichen Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde (ich freue mich übrigens sehr darüber, dass ich ein Exemplar der deutschen Erstausgabe von 1962 ergattern konnte). Eine der Romanfiguren, der Nachbarjunge Dill, sei Truman Capote nachempfunden. Dieser soll Gerüchten zur Folge sogar für einen Teil des Romans verantwortlich sein und seiner Freundin Harper Lee beim Schreiben unter die Arme gegriffen haben. Vielleicht ist ja auch etwas dran, wenn man bedenkt, dass Harper Lee nach ihrem Anfangserfolg nie wieder einen großen Roman veröffentlicht hat.

Fazit: Ein bemerkenswerter Roman, einfühlsam und unterhaltsam zugleich, Weltliteratur, die man gelesen haben muss!


Harper Lee:
Wer die Nachtigall stört
ins Deutsche übersetzt von Claire Malignon,
rororo, 3. Aufl. 2010
528 Seiten
10,- Euro







Dienstag, 13. September 2011

Kurze Geschichte des Buchdrucks (5): Von der Inkunabel zum Bestseller

Augustinus: De Civitate Dei (1470)
gedruckt von Johann v. Speyer 
Bereits einige Jahre vor Gutenbergs Tod 1468 führten seine Schüler Konrad Sweynheim und Arnold Pannartz den Buchdruck in Italien ein und innerhalb von 30 Jahren verbreitete sich die Drucktechnik rasch in ganz Europa. Druckereien, sogenannte "Offizine", entstanden in den wichtigsten europäischen Großstädten, in Rom, Venedig, London, Utrecht und Paris. So fügte der deutsche Drucker Johann von Speyer (†1470), der sich in Venedig als Drucker niedergelassen hatte, seiner Cicero-Ausgabe ”Epistolae ad Familiares“ von 1469 folgendes Kolophon an:
"Jeder Deutsche brachte einst aus Italien ein Buch nach Haus. Was sie mitnahmen zahlt heut ein Deutscher reichlich wieder aus. Nämlich Hans von Speyer, den an Künsten keiner übertrifft. Er bewies, wie man Bücher besser schreibt: mit eherner Schrift." 
Im 15. Jahrhundert gedruckte Bücher, also aus der Zeit, als sich der Buchdruck noch in den Kinderschuhen befand, werden als Inkunabeln (Wiegendrucke) bezeichnet. Dabei wurde das Jahr 1500 als Ende der Inkunabelzeit rein aus bibliografischen Gründen festgelegt. Schätzungen gehen davon aus, dass in dieser Zeit etwa zwischen 24.000 und 40.000 verschiedene Titel [1] mit Auflagen zwischen 100 und bis zu über 2.000 Exemplaren gedruckt wurden [2]. Von diesen sind heute weltweit noch annähernd 550.000 Bücher erhalten [3]. Durch den vorwiegenden Druck in lateinischer Sprache erschloss sich diesen Druckerzeugnissen ein europaweiter Markt, der nicht durch regionale Sprachgrenzen eingeschränkt wurde. Neben Flugblättern, Moritaten, kirchlichen und weltlichen Kalendern zählen politisch, aufrührerische Reden oder Theologica zum Inhalt der ersten Druckwerke.

Aelius Donatus: Ars minor (1497)
Aber welche Bücher wurden als erstes mit Hilfe der neuen Drucktechnik produziert?
Natürlich steht an erster Stelle die Bibel als das wichtigste Buch der damaligen Zeit sowie Grammatiken und Lehrbücher der lateinischen Sprache. Besonders die lateinische Grammatik ”Ars Minor“ des römischen Philologen Aelius Donatus (ca. 310–380 n. Chr.), das populärste Grammatiklehrwerk des Mittelalters, erlebte auch als Druckwerk enorme Verbreitung. Alleine zu Gutenbergs Lebzeiten sollen davon in Mainz 24 Auflagen gedruckt worden sein. Aufgrund des geringen Umfangs von nur 28 Seiten konnte die Lehrgrammatik sehr schnell gesetzt, gedruckt und zudem preiswert verkauft werden. Im 16. Jahrhundert schwand die Bedeutung der Donate. Die mit dem Buchdruck auflebende philologische Wissenschaft sowie die Rückbesinnung der Humanisten auf das klassische Latein Ciceros weckten den Bedarf an differenzierteren und umfangreicheren Grammatiken.

Aber auch die von den Humanisten der Renaissance wiederentdeckten lateinischen Klassiker, wie z.B. die ”Historia Naturalis“ von Plinius dem Älteren (ca. 23-79 n. Chr.) oder auch die Werke von Horaz oder Vergil. Neben Werken in lateinischer Sprache erscheinen auch erste Druckwerke in den jeweiligen ”Volkssprachen“. Weite Verbreitung fand z.B. der ”Ackermann aus Böhmen“ von Johannes von Tepl, geschrieben um 1400 und 1470 erstmals in Bamberg von Albrecht Pfister gedruckt und mit großformatigen Holzschnitten verziert. Dieses Streitgespräch zwischen einem sterbenden Bauern und dem unsterblichen Tod wurde zu einem der ersten Bestseller der Geschichte.
"Erlischt uns Menschen das Lebenslicht, Und scheidet dahin alles irdische Leben, Wie soll´s dann Tod noch und Sterben geben? Wohin, Herr Tod, sollt Ihr dann kommen?" (Johannes v. Tepl: Ackermann aus Böhmen)
Die mit dem Buchdruck einhergehende Verbreitung der Lesefertigkeit förderte das Entstehen neuer literarischer Gattungen, insbesondere der neuen literarischen Gattung des Prosaromans. So entstanden Reiseberichte, satirische Exempelerzählungen wie der ”Eulenspiegel“, Übersetzungen von Volkssagen und neue, unterhaltende oder auch belehrende Romane und Ratgeber.

Conrad Celtis’ Epitaph
Hans Burgkmair d. Ä. (1507)
Insbesondere die Geistesströmung des Renaissance-Humanismus verdankte dem Buchdruck weite Verbreitung und enormen Einfluss. So rühmte der deutsche Humanist Conrad Celtis (1459–1508) die Buchdruckerkunst, erst diese "habe einen Anschluss an die geistige Größe der Antike möglich werden lassen". Startete die Renaissance, die Rückbesinnung auf die Werte und Ideale der Antike im Italien des 14. Jahrhunderts und brachte zahlreiche Dichter, Wissenschaftler und Philosophen hervor, sah der aus Mainz stammende Celtis sich und seine Landsleute diesseits der Alpen als hoffnungslos rückständig und unfähig, diesen geistigen und kulturellen Vorsprung jemals aufzuholen. Die große Chance eines Anschlusses an die Führungsrolle der Kulturvölker bot die neue Erfindung des Buchdrucks, mit dem philologisch korrekte Editionen und Antologien der antiken Werke in großer Auflage und zu einem erschwinglichen Preis produziert werden konnten. So verbreiteten sich bereits während der Inkunabelzeit die Werke zahlreicher antiker Autoren. Cicero, Ovid, Terenz, Horaz und Vergil wurden in großer Stückzahl gedruckt. Aber auch Werke der Rechtssprechung, wie die ”Institutiones Iustiniani“, wissenschaftliche Werke und die medizinischen Werke des griechischen Arztes Galen (129-199) erlangen grosse Popularität und wurden zum Ausgangspunkt kultureller und wissenschaftlicher Entwicklung.

 [Weiter geht es hier demnächst mit Teil 6: Gutenbergs Erben und der Siegeszug des Buchdrucks]


Weitere Beiträge zur Mediengeschichte im Biblionomicon:
Literatur:
  • [1] Brandis, Thilo: Handschriften- und Buchproduktion im 15. und frühen 16. Jh. In: Ludger Grenzmann; Karl Stackmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der frühen Reformationszeit. Stuttgart, pp.176-193 (1984)
  • [2] Wehmer, Carl: Zur Beurteilung des Methodenstreits in der Inkunabelkunde. In: Gutenberg Jahrbuch 1933, pp. 250-324 (1933)
  • [3] Badische Landesbibliothek: Nachweis von Inkunabeln der Badischen Landesbibliothek
  • [4] Meinel, Ch., Sack, H.: Digitale Kommunikation  Vernetzen, Multimedia, Sicherheit, Springer Verlag, Heidelberg (2009).