Montag, 29. August 2011

Zwischen Pornografie und antiker Tragödie - Jonathan Littell 'Die Wohlgesinnten'


Zwischen Pornografie und antiker Tragödie scheint nur ein schmaler Grat zu liegen. Dies zumindest legt meine zugegebenermaßen ungewöhnliche Urlaubslektüre von Jonathan Littells umstrittenen Erfolgsroman 'Die Wohlgesinnten' nahe. Erzählt wird dabei die fiktive autobiografische Geschichte von SS-Obersturmbannführer Dr. Maximilian Aue, promovierter Jurist, polyglott, humanistisch gebildet, und unmittelbar an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt, die er uns Lesern aus erster Hand - und dazu aus Sicht des Täters - schildert. Das fast 1400 Seiten starke Werk dominierte aus literarischer Sicht meine letzte Urlaubswoche und hat mich ungleich stärker als manch' anderes Buch der letzten Zeit beschäftigt und zum Nachdenken gebracht...
"Ihr Menschenbrüder, lasst euch erzählen, wie es gewesen ist. Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wollen es auch gar nicht wissen." (Seite 9)
Aber wie stellt man es an, ein derartiges Werk unvoreingenommen zu beurteilen? Der Holocaust aus Tätersicht beschrieben ist zwar nicht ganz neu (vgl. Robert Merle: Der Tod ist mein Beruf), aber dieser Täter tritt hier ungleich zivilisierter, kultivierter und gebildeter auf, als man ihn aus den einschlägigen Medien kennt. So beherrscht er Latein und Altgriechisch, spricht fließend Französisch, liebt Couperin und Bach, diskutiert über mittelalterliche Philosophie und liest Klassiker der französischen Romantik im Original. Dadurch bietet er auch für den heutigen 'Kulturbürger' genügend Raum zur Identifikation, dem Jonathan Littell aber gezielt immer wieder den Boden unter den Füßen entreißt, sobald er die mit Krieg und Holocaust verbundenen Grausamkeiten bzw. die perversen sexuellen Phantasien des Protagonisten minutiös schildert.
"Ich lebe, ich tue, was mir möglich ist, so geht es jedem, ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr. Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich bin wie ihr!" (Seite 39)
Doch erst einmal zur Handlung: Dr. Maximilian Aue, Jahrgang 1913, mittlerweile Direktor einer französischen Textilfabrik zur Spitzenherstellung schreibt die Geschichte seines Lebens, deren Schwerpunkt seine Zeit als SS-Offizier im 2. Weltkrieg bildet. Die Erinnerungen an seinen Vater, der als Freikorps-Mitglied in den Wirren nach dem 1. Weltkrieg verschwand, erscheinen nur noch als blasse Kindheitserinnerungen. Seine Mutter Heloise, eine Französin, lässt den Vater für Tod erklären, um den reichen Franzosen Aristide Moreau zu heiraten und zieht mit Max und seiner Zwillingsschwester nach Antibes an die französische Mittelmeerküste. Diesen 'Verrat' an seinem Vater wird Max seiner Mutter niemals verzeihen.
"Ein Mann mit Überzeugungen? Das war ich früher sicherlich, doch wo war sie heute, die Klarheit meiner Überzeugungen? Zwar konnte ich meine Überzeugungen noch wahrnehmen, sie flatterten leise um mich herum, aber wenn ich versuche, eine von ihnen zu greifen, entglitt sie meinen Fingern wie ein nervöser, glittschiger Aal." (Seite 665)
Mit seiner Zwillingsschwester Una (lateinisch: Die 'Eine') entwickelt sich während des Heranwachsens ein inzestiöses Verhältnis, das von den Eltern entdeckt wird. Max kommt auf ein Internat und ist dort sexuellen Übergriffen der älteren Mitschüler ausgeliefert. Aus Trotz und aus Hass gegenüber seiner Mutter tritt er später in die SS ein. Während seine Schwester in der Schweiz Psychologie bei C.G. Jung, dem Begründer der analytischen Psychologie, studiert, promoviert Max in Berlin als Jurist. In der SS ist Max gezwungen, seine homosexuellen Neigungen zu verbergen. Sein ständiges Junggesellendasein wird ihm noch manche Rüge, selbst vom Reichsführer der SS Heinrich Himmler eintragen.

Den Krieg erlebt Max an zahlreichen Schauplätzen in nahezu ganz Osteuropa. Wir finden ihn im Kaukasus, auf der Krim, in der Ukraine. Er ist mit dabei in Babyn Jar, in Stalingrad, in Auschwitz und im Untergang Berlins. Hier ist er aktiv als SS-Offizier an der Vernichtung der Juden beteiligt und erledigt dienstbeflissen seine Aufgaben, ohne dabei allzu offensichtliche Brutalität an den Tag zu legen -- und das ist eigentlich auch das Erschreckende daran. Littell verflicht hier genaue historische Recherche mit einer fiktiven Lebensgeschichte und führt dem Leser Organisationsstrukturen und -abläufe des Grauens unmittelbar und im Detail vor Augen.
"Die Notwendigkeit ist, wie bereits die Griechen wussten, nicht nur eine blinde, sondern auch eine grausame Göttin." (Seite 824)
In Stalingrad verwundet besucht Aue seine Eltern auf Genesungsurlaub in Frankreich. Der Hass auf seine Mutter, in den er sich während des Krieges hineingesteigert hatte, entlädt sich im Mord, an den er selbst aber keine Erinnerung mehr hat. Er erwacht am Morgen nackt in seinem Bett und entdeckt den Stiefvater mit der Axt in der Brust und seine Mutter erwürgt. Überstürzt flüchtet er zurück nach Berlin. Aber die Tat lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Die Kriminalpolizei nimmt Ermittlungen auf und schnell verheddert sich Aue trotz der Protektion seiner Vorgesetzten immer tiefer. Die beiden Kriminalbeamten Clemens und Weser verfolgen den Obersturmbannführer fortan wie die griechischen Rachegöttinnen selbst in den unglaubwürdigsten Situationen, wie z.B. bei der Auflösung des Konzentrationslagers Ausschwitz beim Anrücken der Roten Armee oder im Endkampf um Berlin. Auch wenn Max Aue am Ende den Krieg überleben wird, wird ihn die Tat des Muttermordes wie auch seine ungesühnte Beteiligung am Holocaust Zeit seines Lebens nicht mehr zur Ruhe kommen lassen.
"Die Katastrophe war bereits eingetreten, und sie bemerkten es nicht, denn die Katastrophe ist der Gedanke an die bevorstehende Katastrophe, der alles Gute noch vor Eintritt des Unheils verdirbt."(Seite 620)
Ich hatte mich erst relativ spät nach Beginn der Lektüre gefragt, warum der Roman diesen seltsam anmutenden Titel 'Die Wohlgesinnten' trägt. Der Titel bezieht sich auf den letzten Teil der Orestie des Aischylos, der Jonathan Littells Roman nachempfunden ist. Der griechische Held Agamemnon wird von seiner Frau Klytaimnestra und ihrem Liebhaber bei seiner Rückkehr aus dem trojanischen Krieg ermordet. In gleicher Weise wähnt Aue seine Mutter und ihren neuen Mann am Tod seines Vaters verantwortlich. Orest, Agamemnons Sohn, tötet seine Mutter und deren Liebhaber und wird fortan von den Rachegöttinnen, den Erinyen, verfolgt. Diese Rolle der Erinyen übernehmen die beiden Kriminalbeamten Clemens (lateinisch: Der 'Sanfte') und Weser, die Aue fortan auf der Spur sind und diesen nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Während Orest von der Göttin Athene beschützt wird, in deren Tempel er sich flüchtet und der es letztendlich gelingt, die Erinyen zu besänftigen, wird Aue von den SS-Oberen protegiert.

Um die historischen Tatsachen weiter zu verfremden, treten zwei fiktive Industrielle -- Dr. Mandelbrot und Herr Leland -- als Aues Gönner auf, wobei Dr. Mandelbrot auch durchaus als genialer Schurke eines James Bond Films durchgehen könnte, in Anbetracht seiner seltsamen Vorliebe für Katzen und seinen blonden, sich einander zu stark ähnelnden, walkürehaften Assistentinnen in SS-Uniform, die sich Max Aue -- wenn auch vergeblich -- in Liebesdingen andienen. Mandelbrot wird geschildert als nahezu bewegungsunfähiger Mann von immenser Leibesfülle, der mit Hilfe eines Elektrorollstuhls bewegt wird, und der unter zunehmender Flatulenz leidet. Sein Einfluss auf die NS-Politik scheint enorm und nach Kriegsende wird er sein dunkles Spiel nahtlos in Moskau auf der Gegenseite fortsetzen.

Doch neben der fiktiven Romanhandlung steckt hinter allem die historische Realität, die minutiös, wenn auch oft nur im Vorbeigehen geschildert wird. Natürlich macht sich ein gebildeter Mensch wie Dr. Aue auch seine Gedanken zur Rechtfertigung der Aufgaben der SS und zur Judenfrage. Die kühle Distanziertheit und die sich scheinbar schlüssig ergebende Notwendigkeit in den Augen Aues verstört den Leser, der sich immer wieder fragt, wie er in der gleichen Situation denn gehandelt hätte.
"Mit einem Mal spürte ich das ganze Gewicht der Vergangenheit, den Schmerz des Lebens und des unerbittlichen Gedächtnisses, ich blieb allein[...]allein mit der Zeit und der Traurigkeit und dem Leid der Erinnerung, mit der Grausamkeit meiner Existenz und meines künftigen Todes. Die Wohlgesinnten hatten meine Spur wieder aufgenommen." (Seite 1359)
Es ist zu einfach, die Täter immer nur in die Ecke der pathologischen Gewaltmenschen rücken zu wollen. Schuld trägt jeder, der zur Tat beigetragen hat. Wo aber beginnt diese Schuld und wo hört sie auf? Inwiefern trägt der Befehlsempfänger die Schuld, der den Hebel zum Gashahn bedient hat, der wohl noch am direktesten an den Morden beteiligt war, im Gegensatz zum Weichensteller, der die Weiche des Zuges bedient hat, die diesen aus Deutschland nach Auschwitz gelenkt hat? Sind nur die Entscheidungsträger an der Spitze verantwortlich, die von den Befehlsempfängern ein 'Mitdenken im Sinne des Befehlsgebers' verlangt hatten? Die hier thematisierte Schuldfrage war für mich einer der nachdenklichsten Aspekte des Romans. Allerdings haben mich die vielfach wiederkehrenden, pornografisch anmutenden sexuellen Fantasien des Protagonisten bei der Lektüre mehr und mehr angewidert. Wahrscheinlich sind sie aber auch genau in diesem Sinne gedacht.

So gibt diese kurze Rezension eigentlich nur die 'Spitze des Eisbergs' zu einem umfangreichen und vielschichtigen Roman wider, in dem griechische Tragödie inklusive eines ansehnlichen Restes bürgerlichen Bildungskanons vermengt mit historischer Realität und pornografischen Gewaltfantasien zu einem gigantischen Mashup geraten.

Fazit: Ein gigantisches Werk, angesiedelt zwischen Bildungsroman und Pornografie. Nichts für jedermann, aber man sollte es gelesen haben!


Jonathan Littel:
Berlin Verlag (2008)
1392 Seiten
36,00 Euro






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Donnerstag, 18. August 2011

Alles wegen Ada - Friedrich C. Delius 'Die Frau, für die ich den Computer erfand'

Konrad Zuse, das lange verkannte Genie, hatte hier in Deutschland schon immer einen schweren Stand. Wer weiß schon, dass im vergangenen Jahr, anlässlich Zuses 100-ten Geburtstag, tatsächlich auch das "Zuse-Jahr" gefeiert wurde, mit dem der Erfinder des Computers gebührend gewürdigt werden sollte. Und überhaupt war es ein langer Kampf, bis Zuse tatsächlich die Anerkennung bekam, die ihm zustand. Für mich als Informatiker ist Friedrich C. Delius' Roman 'Die Frau, für den ich den Computer erfand' auch ein ganz besonderes Stück, das ich aus meinem persönlichen Blickwinkel heraus betrachte und bewerte.

Überhaupt hörte ich erst etwas von Konrad Zuses Existenz und Bedeutung, als ich damals in München mein Informatikstudium begann. Zu dieser Zeit war der geniale, aber wenig vom Glück begünstigte Tüftler und Erfinder einer deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt, obwohl er tatsächlich verantwortlich ist für die heute wohl wichtigste und bahnbrechendste technische Erfindung der letzten 50 Jahre. Naja, natürlich ist er das, aber die Geschichte geht eben ihren eigenen Lauf bzw. wird die Geschichte - wie es ja immer heißt - von den Siegern geschrieben. Und das waren nach Ende des 2. Weltkrieges natürlich Amerikaner und Briten, die mit ihren eigenen Entwicklungen auf dem Gebiet der Informatik zwar ein gutes Stück hinter Konrad Zuse zurück lagen, doch wusste leider auch niemand davon.

Aber erst einmal alles der Reihe nach. Delius schrieb dieses Buch als gut 150-seitigen Monolog Konrad Zuses, ein Gespräch mit einem Journalisten Mitte der 1980er Jahre, das an einem einzigen Abend stattfand und bis in die Morgenstunden andauerte. Schauplatz des Geschehens war der hessische Stoppelsberg, ein erloschener Vulkan in der Rhön, nahe Zuses früherer Wirkungsstätte. Für einen Informatiker kommt Zuse zunächst allzu klassisch gebildet daher, zumindest was das allgemeine Klischee meiner Zunft betrifft, das uns ja Scheuklappen und Berufsblindheit attestiert. Er betrachtet sich und seine Arbeit unter dem Aspekt der Faust-Geschichte, in der Mephisto den genialen Wissenschaftler Faust um den Preis seiner Seele verführt.

Allerdings gibt es kein Gretchen, für die Zuse den Computer erfand -- die war ja auch nur ein 14-jähriges, unschuldiges Mädchen in der Faust-Geschichte. Vielmehr müssen wir an dieser Stelle schon Teil 2 der Tragödie bemühen, und unserem Zuse eine Helena zu suchen. Wer kann dabei anderes in Frage kommen, als die "Mutter" aller Programmierer, nämlich Ada Augusta Byron Countess of Lovelace, Tochter des berühmten Lord Byron und Assistentin des genialen Charles Babbage, der bereits im 19. Jahrhundert die Idee der universalen Rechenmaschine mit seiner mechanisch betriebenen Analytical Engine vorwegnahm, die zwar nur eine Idee auf dem Papier blieb, aber für die Ada doch die allerersten Computerprogramme entwickelt und geschrieben haben soll. Zuse liest in einer Bibliothek über Ada in einer kleinen Randnotiz eines Mathematikbuches und verliebt sich in die Idee, dass es da eine Frau, zumal eine Mathematikerin gegeben hat, die zwar über 100 Jahre vor ihm gelebt hat, die ihm aber seelenverwandt erscheint. Sie ist es, die zur Triebfeder seiner Ingenieurskunst wird, und die ihn über die Jahre hinweg stets -- wenn auch nur in Gedanken -- begleitet.

Wir erfahren eine Menge über Zuse und die Geschichte des Computers. Angefangen mit dem bereits legendären leergeräumten Wohnzimmer von Zuses Eltern, in der er zusammen mit Freunden und unterstützt von seiner Familie die allererste, zunächst noch mechanische Rechenmaschine baut, dann die erste elektromechanische Rechenmaschine bis hin zu den Ideen des allerersten vollelektronischen Universalrechners. Wir hören von all den Problemen, die die Kriegszeit mit sich brachte, und Zuses abenteuerlichen Flucht aus Berlin am Ende des Krieges. Als er dann nach dem Krieg versucht, seine Firma aufzubauen, scheiterte er nur allzu oft am technischen Unverständnis der deutschen Nachkriegswirtschaft, die die Bedeutung und Tragweite der neuen Computer noch nicht einschätzen kann. Dies geht sogar soweit, dass sich das Patentamt nahezu 20 Jahre Zeit lässt, um über Zuses Patent für den Computer zu entscheiden, um es anschließend wegen "mangelnder Erfindungshöhe" abzuweisen.

Delius wählt die ungewöhnliche Erzählform des Monologs, um die Geschichte mit Zuses eigenen Worten zu erzählen. Dies verleiht ihr Authentizität und hält den Leser auch dann bei der Stange, wenn er kein Informatiker sein sollte. Natürlich handelt es sich um einen Roman, also um eine fiktive Geschichte. Allerdings hat Delius dennoch eine Menge Fakten und historische Tatsachen um den seltsamen deutschen Erfinder gesammelt, die dem Leser auf kurzweilige und unterhaltsame Weise präsentiert werden.

Fazit: Die ungewöhnliche Geschichte eines ungewöhnlichen "deutschen" Erfinders, der seiner Zeit um Jahre voraus war ... das war allerdings auch sein Pech! Unbedingt lesen, auch für Nichtinformatiker!
Friedrich Christian Delius:
Rowohlt, Berlin (2009)
288 Seiten
19,90 Euro










Freitag, 12. August 2011

Vom Mythos zur Propaganda - Jean-Pierre Luminet 'Alexandria 642'

Natürlich ist da an aller erster Stelle der Mythos vom Hort und Schmelzpunkt des antiken Weltwissens, die Bibliothek von Alexandria, angegliedert an das alexandrinische Museion, Forschungsinstitut und 'Think Tank' der griechisch-hellenistisch geprägten Antike. Und im gleichen Atemzug hebt der moderne Bildungsbürger an zu einem Seufzer, um all dem verlorenen Wissen nachzutrauern, das mit dem Niedergang dieser antiken Bildungsstätte zugleich verschwand. Und genau hier setzt auch die Propaganda an, gleich aus welcher kulturell-ideologischen Ecke sie stammte, wenn es darum ging, wem denn nun die Verantwortung an diesem unwiederbringlichen Verlust zugeschanzt werden soll....

Wir schreiben das Jahr des Herren 642, oder sollten wir besser sagen, wir befinden uns im 20. Jahr, nachdem der Prophet die Stadt Mekka verlassen hatte und die islamische Zeitrechnung begann. Der islamische Feldherr Amr Ibn Al-As steht vor den Toren der Stadt Alexandria, die über kurz oder lang zum Ruhme des Allmächtigen eingenommen werden wird. Die allgemeine Panik erfasst auch Johannes Philoponos, den letzten 'Bibliothekar', der um den Fortbestand seiner Bibliothek bangt. Zusammen mit seiner Großnichte Hypathia und dem Arzt Rhazes versuchen die drei den Feldherren von seinem ursprünglichen Plan abzubringen, die Bibliothek und all' ihre in den 1000 Jahren ihres Bestehens gesammelten Schriften den Flammen zu überantworten.

Dabei holen sie weit aus und zeichnen das Bild der antiken Gelehrsamkeit beginnend mit der Gründung Alexandrias im 4. vorchristlichen Jahrhundert durch Alexander den Großen, über die Gründung des Museions und der Bibliothek durch Ptolemaios I. Soter und die großen Gelehrten der Antike, die alle zumindest die Bibliothek einmal besuchten, bis hin zu ihrem fortdauernden Verfall, angefangen beim Brand der Hafenanlagen während des römischen Bürgerkrieges zwischen Cäsar und Pompeius, bis hin zu den frühchristlichen Eiferern und ihrer Wut gegen die heidnischen Schriften. So hören wir von Aristoteles, dem Lehrer Alexanders und von Euklid, dem Vater der Mathematik und der Geometrie. Aristarch von Samos berechnet die Entfernung von der Erde zur Sonne und schlägt als erster ein heliozentrisches Weltbild vor, das die Erde nicht mehr als Zentrum des Universums sieht, sondern diese auf eine Kreisbahn um die Sonne schickt. Archimedes und seine zahlreichen Erfindungen, nicht zuletzt seine gefürchteten innovativen Kriegsgeräte, und Eratosthenes, dem es mit erstaunlicher Genauigkeit gelang, den Erdumfang mit Hilfe einfacher Dreiecksberechnungen zu bestimmen. Zahlreiche weitere Wissenschaftler kommen zu Wort, so z.B. der Astronom Hipparch, der Geograph Strabon, der Philosoph Philon von Alexandria, der versuchte biblisches Gedankengut und hellenistisch-philosophische Ideen miteinander zu verbinden, und der großen Einfluss auf die Kirchenväter ausübte. Seneca, Epiktet, Klaudios Ptolemaios, der Arzt Galenos, der Mathematiker Diophantos, oder auch die Mathematikerin, Astronomin und Philosophin Hypathia von Alexandria als erste Märtyrerin der Wissenschaft gegenüber religiöser Intoleranz.

Luminet schwelgt in diesem Kanon des antiken Wissens und spinnt darum eine einfache Geschichte, der es genauso ergeht, wie einem Film über die Titanic: Man weiß, die Bibliothek wird am Ende untergehen. Trotzdem werden die ungeheuer vielen Fakten auf unterhaltsame Weise zusammen mit Anekdoten und Geschichten dargestellt, so dass sie niemals langweilig wirken. Ein ausführliches Personenverzeichnis mit Zeittafeln und wissenschaftlichen Fußnoten runden das Buch ab und geben vertiefende Auskunft über die zahlreichen dargestellten Fakten.

Und der Leser wird gefesselt durch die vergebliche Aussicht, dass es den Protagonisten doch gelingen könnte Amr vom Auftrag seines Kalifen Omars abzubringen. Doch leider steht am Ende das Urteils Omars über die heidnische Wissenschaft schon lange fest. Denn steht in den heidnischen Schriften nichts, was dem Koran widerspricht, so sind sie überflüssig und können verbrannt werden. Anderenfalls widersprechen sie dem Wort Gottes und müssen aus eben diesem Grund verbrannt werden. Aber auch diese Geschichte wurde wie so viele andere auch wahrscheinlich nur erfunden zum Zweck politischer und religiöser Propaganda gegenüber einem Gegner, den man ob der stattgefundenen Barbarei mit einem Brandmal versehen wollte.

Fazit: Mehr Sachbuch als Roman, aber für alle, die an der Welt der Antike interessiert sind, ein absolutes MUST READ!

Jean-Pierre Luminet:
Deutscher Taschenbuchverlag (2005)
287 Seiten
8,90 Euro

Mittwoch, 10. August 2011

Wo steckt eigentlich Dr. Evil? - Frank Schätzing 'Limit'

Ja, das fragt man sich tatsächlich, wenn man sich erst einmal in Frank Schätzings schwergewichtige Weltraum-Oper 'Limit' vertieft und hoffentlich nicht den Faden verloren hat, angesichts der eng bedruckten 1328 Seiten...Wo steckt eigentlich Dr. Evil? Denn auf diese tragikomische Gestalt wartet man eigentlich die ganze Zeit über, in der diese Mega-Story (was den Umfang betrifft) abrollt, die einem James-Bond-Film alle Ehre machen würde. Schön, dass der Erfolgsautor Schätzing nach seinem Ozean-Erfolg 'Der Schwarm' in den Weltraum und damit in die nahe Zukunft wechselte, aber musste die Geschichte unbedingt so lang geraten....?

Wir schreiben das Jahr 2025. Julien Orley, Selfmade-Milliardär -- irgendwie erinnert er mich an eine Mischung aus Richard Branson (Virgin Galactic) und Tim O'Reilly (Web 2.0) -- , hat der Menschheit mit der Kernfusion eine neue und annähernd grenzenlose Energiequelle geschenkt. Was man dazu braucht, ist das Isotop Helium-3, das in ausreichenden Mengen auf unserem Erdtrabanten, dem Mond, vorkommt. Aber um da heran zu kommen, muss auch die Weltraumfahrt revolutioniert werden. Und zu diesem Zweck hat Orley einen Weltraumfahrstuhls konstruiert, wie ihn der Science Fiction Autor Arthur C. Clarke bereits 1978 in einer Geschichte aufgegriffen und öffentlich bekannt gemacht hatte (übrigens hatte Clarke auch 1945 die Idee der geostationären Satelliten vorweggenommen). Der Weltraumlift bietet eine preiswerte und rentable Möglichkeit, Personen und Fracht ins All bzw. von dort zur Erde zu transportieren.
"Wie eigenartig. Selbst so etwas Exotisches wie Raumfahrt schien nur in der Kultivierung irdischer Mythen zu funktionieren, einfach, indem man Kletterhaken des Gewohnten in das Fremdartige trieb." (Seite 1136)
Um sein Unternehmen im großen Stil weiter auszuweiten und zu expandieren lädt Orley eine illustre Gruppe von einflussreichen Größen aus Wirtschaft und Unterhaltung ein, sein neues Hotel auf dem Mond zu eröffnen. Das Unternehmen soll den Investoren durch ein Erlebnis der besonderen Art schmackhaft gemacht werden und so erleben wir die Fahrt im Weltraumlift und den anschließenden Transport zum Mond hautnah und aus verschiedenen Perspektiven mit.
Zur gleichen Zeit wird der private Cyber-Ermittler Owen Jericho von seinem chinesischen Freund Tu Tian um einen Gefallen gebeten. Er soll die verschwundene Dissidentin Yoyo aufspüren. Dabei geraten alle drei in den Dunstkreis einer weltweiten Verschwörung, deren Angriffsziel die Unternehmungen Orleys darstellen, da sie die bestehende Welt- und Energiewirtschaft auf den Kopf stellen und so die gewohnte Weltordnung in Frage stellen.

Interessanter Fakt, die 1328 Seiten lassen sich tatsächlich inhaltlich recht knapp zusammenfassen. Eigentlich ist die Story ja auch ziemlich spannend, sie hätte sich aber auch mit gut 500 Seiten weniger erzählen lassen, ohne dass man dann den Eindruck gewinnen würde, dass etwas fehlt. Schätzing gestaltet die nicht allzu ferne Zukunft überaus interessant mit kleinen aber gewichtigen Innovationen, wie z.B. (halb-)autonome Fahrzeuge, 3D-Displays ohne Brillen (gibt es übrigens schon), aber auch den großen Themen Kernfusion, Mondprogramm und Weltallfahrstuhl. Besonders interessant auch zu lesen die wachsende Dominanz Chinas und dessen kultureller Einfluss selbst auf Alltägliches im ganzen Rest der Welt. Allerdings gerät dabei die ein oder andere gesamtwirtschaftliche oder politische Darstellung viel zu ausführlich. Schätzing verfolgt ganz ähnlich wie im "Schwarm" die Strategie, den Lesern quasi in Dialogform komplexe Entwicklungsprozesse vor Augen zu führen, die dann doch aber oft etwas aufgepfropft wirken und über weite Strecken den ein oder anderen Leser nur langweilen. Hier wäre eine etwas knappere, kondensierte Form dem Lesegenuss wohl eher entgegengekommen. Insbesondere, wenn man danach dann immer wieder auf Groschenroman-Metaphern stößt wie diese:
"Die Partei war von Geheimdiensten durchzogen wie der Gorgonzola von Schimmel" (Seite 445)
Überhaupt, wie ja schon anfänglich behauptet, entwickelt sich die ganze Geschichte tatsächlich wie einer dieser James-Bond-Filme: da haben wir die Jet-Set Superreichen, den coolen Cyber-Cop als einsamen Wolf, die vom Vater unverstandene Hacker-Dissidentin und einen ultrabrutalen Erz(!)schurken, auf dessen verdeckt operierende Hintermänner der Leser gespannt lauert. Dazu kommt dann noch das ganze Arsenal technologischer Gadgets, die allesamt in den Bereich der nahen Zukunft gehören. Eigentlich wartet man die ganze Zeit förmlich darauf, einen gesetzteren Mann mit Glatze, Mao-Anzug und Katze auf dem Schoß vorzufinden, der heimtückisch grinsend den kleinen Finger zum Mund bewegt....

Fazit: Etwas für hartgesottene Fans, die nicht davor zurückschrecken, auch einmal ein paar uninteressante Seiten zu überblättern. Ansonsten zwischendurch ganz interessant und ab und an auch spannend...


Frank Schätzing:
Kiepenheuer & Witsch (2009)
1328 Seiten
26,00 Euro (Hardcover)

Dienstag, 9. August 2011

Kurzer Nachtrag in Sachen Humboldt...

Ein überaus bemerkenswertes und großartiges Geburtstagsgeschenk führte mich gestern in die Handschriftensammlung der Berliner Staatsbibliothek. Neben kostbaren tausendjährigen Manuskripten und mit höchster Kunstfertigkeit verzierten Prachtbände (dazu später mehr...) bekamen wir auch einen winzigen Teil eines bedeutenden Nachlasses zu Gesicht. Die Handschriftensammlung umfasst neben den illuminierten Prachtbänden auch die Nachlässe von Literaten, Politikern und Wissenschaftlern.

Darunter auch der komplette Nachlass Alexander von Humboldts, der, wie mir immer mehr scheint, von Daniel Kehlmann in seiner 'Vermessung der Welt' (hier im Biblionomicon 'Ein Roadtrip der besonderen Art...') treffend charakterisiert wurde.

Prof. Overgaauw als Leiter der Handschriftenabteilung erläuterte uns voller Enthusiasmus den "Vermessungswahn" Humboldts an Hand der unglaublichen Fülle an zahllosen hinterlassenen Tabellen, Zählungen und Vermessungen, alles ganz akribisch festgehalten auf tausenden von losen Blättern, eng beschrieben mit kleiner und allerkleinster schwarzer Schrift. So habe es nichts gegeben, dass Herr von Humboldt nicht auch genau gezählt und festgehalten hätte auf seinen Reisen, und sei es nur die genaue Anzahl der Schafe, die ihm am Wegesrand entgegenkamen...

Sonntag, 7. August 2011

Präzision und Vorurteile - Dava Sobel 'Längengrad'

Eigentlich hatte ich hinter dem Titel einen historischen Roman um das geschichtlich verbürgte Problem der Längengradbestimmung erwartet, aber Dava Sobels Essay fasst die historischen Details dieser spannenden Geschichte sachlich präzise und dennoch überaus unterhaltsam in chronologischer Weise zusammen. Dabei ist es den heutigen Zeitgenossen gar nicht bewusst, dass die Bestimmung der genauen Position auf See ein immens wichtiges Problem war, dessen Lösung lange Zeit nahezu unmöglich schien.

Worum geht es überhaupt? Versetzen wir uns einfach einmal zurück in das Zeitalter der Entdeckungen. Wir alle kennen die Geschichte(n) um Christoph Kolumbus und wie er seine Geldgeber versuchte zu überzeugen, dass er eine westliche Route nach Indien finden könnte und dass die Entfernung dorthin quer über den Atlantik doch gar nicht so weit wäre. Das Problem dabei ist klar. Die Erde hat die Gestalt einer Kugel. Um die Entfernung zweier beliebiger Punkte voneinander zu bestimmen, muss ich wissen, (a) wie groß die Kugel insgesamt ist und (b) welche Koordinaten beide Punkte auf der Kugel besitzen.

Kann die exakte Position nicht bestimmt werden, gerät jede Seefahrt zum Vabanque Spiel. So schrieb Samuel Pepys 1683 während einer Reist nach Tanger in sein berühmtes Tagebuch:
"Angesichts der ungewissen Positionsbestimmungen und der absurden Theorien, die in diesem Zusammenhang aufgestellt werden, und des Durcheinanders, das unter den Leuten herrscht, ist völlig klar, dass sich nur durch göttliche Vorsehung, durch Zufall und aufgrund der Weite des Meeres nicht noch mehr Katastrophen in der Seefahrt ereignen als ohnehin schon."(Seite 27)
Jeder Punkt auf der Kugel wird durch den jeweiligen Breitengrad (in Nord-Süd-Richtung) und Längengrad (in Ost-West-Richtung) exakt in seiner Position bestimmt. Wie können wir nun diesen Punkt feststellen? Die Erde dreht sich in 24 Stunden einmal um sich selbst und in ca. 365 Tagen einmal um die Sonne. Damit bewegt sich der Sternenhimmel scheinbar um uns herum. Die Erdachse ist dabei gegenüber der Sonne geneigt, so dass die Sonne im Laufe des Jahres am Himmel wandert, d.h. wenn ich stets zur Mittagszeit den Sonnenstand betrachte, schwankt dieser in fest vorgegebenen Grenzen bzgl. meiner aktuellen nördlichen bzw. südlichen Breite. Auf diese Weise bestimmen Seefahrer schon seit langer Zeit, auf welchem Breitenkreis sie sich befinden. Ein Sextant hilft dabei, die Höhe der Sonne zur Mittagszeit zu bestimmen.

Anders steht es mit der geografischen Länge. Hier gibt es eigentlich keinen festen Bezugspunkt am Himmel, nach dem wir uns zu seiner Bestimmung richten könnten. Eine einfache Methode bestünde aber darin, zu wissen, wie groß die Zeitdifferenz zwischen zwei geografischen Punkten ist, d.h. wie spät ist es gerade in meinem Heimathafen, während ich unter fernen Gestaden exakt zur Mittagszeit den Stand der Sonne bestimme? Wäre diese zeitliche Differenz bekannt, könnte man auch den jeweiligen Längengrad einfach berechnen, indem man für das komplette Erdenrund die 24 Stunden herannimmt, die die Erde für eine Drehung um sich selbst benötigt. Beträgt die zeitliche Entfernung eine Stunde, dann beträgt die geografische Distanz genau 1/24 des 360° Vollkreises, d.h. 360°/24=15°.

Jetzt sind diese Angaben noch relativ zur Erdgröße zu betrachten, d.h. zur Bestimmung der exakten Entfernung müssen wir wissen, wie groß die Erde ist. Dieses Problem konnte bereits in der griechischen Antike gelöst werden. Eratosthenes von Kyrene löste das Problem des Erdumfangs im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, indem er die Schattenlängen zur Mittagszeit an einem bestimmten Tag des Jahres sowohl in Alexandria am Mittelmeer als auch im entfernten Syene (dem heutigen Assuan) maß, das annähernd auf dem selben Meridian (Längengrad) lag. Mit Hilfe einer einfachen Dreiecksberechnung gelang es Eratosthenes, den Erdumfang erstaunlich exakt zu berechnen.
"Unter Zuhilfenahme der Himmelskörper konnten nun die Dimensionen der Erde korrekt wiedergegeben werden. Als Ludwig XIV. eine revidierte Landkarte von Frankreich vorgelegt wurde, die auf korrekten Längengradmessungen beruhte, soll er sich beklagt haben, dass er mehr Land an seine Astronomen verloren habe, als an seine Feinde."(Seite 40)
Aber das sind ja nur die Geschichten hinter der eigentlichen Geschichte in Dava Sobels faszinierendem Buch. Beim Streit um die Lösung des Längengradproblems, für das das englische Parlament im Jahre 1714 eine Prämie von damals sagenhaften 20.000 Pfund ausgesetzt hatte, gab es zwei grundsätzlich verschiedene Lösungsansätze, deren Vertreter sich bis aufs Messer bekämpften. Da gab es die alteingesessenen Astronomen und Physiker, die eine mathematisch anspruchsvolle und praktisch sehr aufwändige Bestimmung des Längengrades mit Hilfe astronomischer Phänomene vorschlugen, und auf der anderen Seite die Präzisionsgerätehersteller, die eine Uhr erfinden wollten, die zum Einen über lange Zeit ganggenau sein musste und andererseits auch unter den unwirtlichen Bedingungen auf einem schwankenden und immer nassen Schiff präzise funktionieren musste.
"In der Folge wurde der Ausdruck 'den Längengrad finden' zum Synonym für ein aussichtsloses Unterfangen"(Seite 70)
'Längengrad' ist die Geschichte des Uhrmachers John Harrison, dessen Entwicklungsarbeit eines ganggenauen und robusten Chronometers zu einer wahren Gralssuche gerät. Immer wieder hat er gegen die Widerstände und Schikanen seiner Widersacher zu kämpfen, die ihm stets seine fehlende akademische Ausbildung zum Vorwurf machen. Auf unterhaltsam eloquente Weise gelingt es Dava Sobel, dem Leser diese spannende Geschichte um John Harrisons Jagd nach der genauen Zeit und den lebenslangen Kampf um seine Anerkennung in ihrem Essay nahezubringen.

Fazit: Es muss nicht immer ein Roman sein. Die Geschichte alleine ist oft schon spannend genug, selbst wenn es sich um 'trockene' Wissenschaft handelt. Lesen!


Dava Sobel
Berlin Verlag (2005)
240 Seiten
8,95 Euro




Samstag, 6. August 2011

Jane Austen und die Dinosaurier - Tracy Chevalier 'Zwei bemerkenswerte Frauen'

Was passiert, wenn eine Easy-Listening Erfolgsautorin einer der großen britischen Autorinnen des 19. Jahrhunderts nacheifern möchte und dazu noch das Modethema 'Dinosaurier' aufgreift. Nein, es geht nicht um ein Sequel zu 'Stolz und Vorurteil und Zombies', sondern um eine weitere Geschichte der Autorin des 'Mädchens mit dem Perlohrring', die zur Zeit des angehenden 19. Jahrhunderts spielt und deren Protagonistinnen ganz im Stile der Heldinnen Jane Austens daherkommen.

Elizabeth Philpot, eine junge Frau aus besseren Londoner Kreisen, hat keine Aussicht mehr auf eine gute Partie, da sie ihren 25. Geburtstag bereits hinter sich gelassen hat, nicht übermäßig von der Natur mit Schönheit bedacht wurde und auch nicht die Erbin eines großen Vermögens ist -- befinden wir uns doch in England und zwar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So schlägt der Bruder den drei Philpot-Schwestern nach dem Tod ihrer Eltern vor, das kostspielige elterliche Domizil in London aufzugeben und in den kleinen Küstenort Lyme Regis in Englands Südwesten zu ziehen.

Schon dieser Anfang lässt uns unweigerlich auch an den Umzug der Familie Dashwood aus Jane Austens 'Verstand und Gefühl' denken, die nach dem Tod des Ehemannes und Vaters vom Bruder an die Luft gesetzt werden und sich in bescheideneren Verhältnissen auf dem Lande zurecht finden müssen. Doch Lyme Regis ist ein ganz besonderer Küstenort, da man hier am Strand zahlreiche und gut erhaltene Fossilien finden kann, ein Hobby, dass wie geschaffen scheint für die kluge und umtriebige Miss Elizabeth Philpot.
"Schon bald nach unserer Ankunft in Morley Cottage erkor ich Fossilien zu meiner neuen Leidenschaft. Irgendeinen Zeitvertreib brauchte ich schließlich: Ich war fünfundzwanzig, würde wahrscheinlich niemals heiraten und suchte nach einer Liebhaberei, die meine Tage ausfüllen konnte. Das Leben einer Dame kann unendlich öde und langweilig sein."(Seite 24)
Dabei lernt sie auch die kleine Mary Anning kennen, das Mädchen, das als Kleinkind vom Blitz getroffen wurde, die sich als wahre Meisterin im Fossiliensammeln erweist und so das kleine Zimmermansgeschäft ihres Vaters mit dem Verkauf der Fossilienfunde an die Touristen unterstützt. Die beiden so unterschiedlichen Frauen -- die unverheiratete Dame der besseren Gesellschaft und die aus einfachen Verhältnissen stammende Schreinerstochter -- kommen sich über ihre Passion näher und widmen ihr ganzes Leben den rätselhaften, zu Stein gewordenen Lebewesen, über deren Natur und Ursprung die damalige Fachwelt lange stritt, da dieser doch das vorherrschend christlich-abendländische Weltbild in seinen Grundfesten zu erschüttern drohte. So werden den beiden 'Forscherinnen' so mancher Stein in den Weg gelegt und sie müssen sich ihren Platz in der wissenschaftlichen Männerdomäne unter großen Verlusten erkämpfen.
"Mary Anning und ich sind am Strand und suchen Fossilien, sie ihre Riesenbestien, ich meine Fische. Unsere Augen wandern über den Sand und die Klippen, während wir in unterschiedlichem Tempo die Küste entlang gehen. Mal läuft die eine vorne, mal die andere....Wir reden wenig miteinander, denn das haben wir nicht nötig, wir können zusammen schweigen. Jede ist in ihrer eigenen Welt und weiß doch, dass sie sich nur umdrehen muss, um die andere zu sehen."(Seite 361)
Der Verlag selbst bewirbt das Buch mit dem Bezug zu Jane Austen, doch außer den geschilderten Umständen und der Epoche kann es der unterhaltsame Roman nicht wirklich mit seinen großen Vorbildern aufnehmen. Zu dünn ist die charakterliche Zeichnung geraten, zu schnell und oberflächlich wird zu Gunsten einer rasch voranschreitenden Handlung auf die inneren Konflikte der beiden bemerkenswerten Frauen verzichtet. Dabei, und das ist das Außergewöhnliche, handelt es sich quasi um eine wahre Geschichte. Mary Anning und Elizabeth Philpot haben wirklich gelebt und Tracy Chevalier erzählt ihre Geschichte. Dabei legt sie eine große Leichtigkeit an den Tag, mit der sie auch in ihrem Vorgängerroman 'Das Mädchen mit dem Perlohrring' über die Dienstmagd Griet und den Maler Vermeer so großen Erfolg gehabt hatet. Ich vergleiche diese Schreibweise gerne mit 'Easy Listening'-Musik. Alles plätschert so dahin und macht beim Lesen keine große Mühe...und für einige Zeit ist es tatsächlich auch ganz unterhaltsam.

Fazit: Die Lektüre ist wie ein erholsamer, kurzweiliger und sehr relaxter Tag am Meer. Dort sollte man das Buch wohl auch am besten lesen!

Tracy Chevalier:
Zwei bemerkenswerte Frauen
Knaus (2009)
368 Seiten









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Mittwoch, 3. August 2011

Ein Roadtrip der besonderen Art - Daniel Kehlmann 'Die Vermessung der Welt'

OK, ich habe das Buch vor über 4 Jahren gelesen, als es das Biblionomicon noch gar nicht gab. Aus gegebenem Anlass - Humboldt kam genau heute vor 207 Jahren von seiner großen Amerikareise zurück - habe ich daher diesen alten Blogpost aus meinem Wissenschaftsblog 'more semantic...!' hierher an die richtige Stelle übernommen und erweitert...


Daniel Kehlmanns vielgepriesenes Buch 'Die Vermessung der Welt' war für mich wirklich eine der großen Überraschungen in den Neuerscheinungen der letzten Jahre. Der Gattungsbegriff 'Biografie' trifft es nicht ganz, aber dann irgendwie natürlich doch. Eigentlich handelt es aber eher eine Art gigantischen 'Roadtrip', einerseits um die (äußere) halbe Welt - repräsentiert durch den Naturforscher Alexander von Humboldt - und andererseits durch die (innere Welt der) Mathematik - vertreten durch das mathematische Universalgenie Carl Friedrich Gauss.

Wir stürzen mitten in die Geschichte, als der bereits betagte Mathematiker Gauss nach Berlin aufbrechen muss, um auf Einladung von Humboldts an einem Kongress teilzunehmen. Eigentlich will er ja gar nicht, vor allem nicht aus dem Bett heraus, aus seinem Haus, aus Göttingen...und überhaupt. Köstlich...vor allem auch der Dialog (eigentlich eher ein Monolog) mit Eugen, seinem seiner Ansicht nach 'missratenem' Sohn.
"Eine Weile sah er mit gerunzeltem Gesicht aus dem Fenster, dann fragte er, wann seine Tochter endlich heiraten werde. Warum wolle die denn keiner, wo sei das Problem?
Eugen strich sich die langen Haare zurück, knetete mit beiden Händen seine rote Mütze und wollte nicht antworten.
Raus mit der Sprache, sagte Gauß.
Um ehrlich zu sein, sagte Eugen, die Schwester sei eben nicht hübsch.
Gauß nickte, die Antwort kam ihm plausibel vor. Er verlangte ein Buch..." (Seite 8)
Dazu hat er keine Papiere - die man zur damaligen Zeit für die Reise von Göttingen nach Berlin durchaus benötigte - erzählt dem Polizeibeamten, dass Napoleon seinerzeit sogar auf eine Kanonade Göttingens nur seinetwegen verzichtet hätte...Hier muss sich der Leser die damaligen Verhältnisse in "Deutschland" (was auch immer in dieser Zeit darunter zu verstehen war) vor Augen führen. Die herrschenden Fürsten hatten eine Heidenangst vor revolutionären, also "demokratischen" Umtrieben...und auf Napoleon war man in Deutschland nach dem Wiener Kongress in kaum einem der dazu zählenden 100+x Kleinstaaten allzu gut zu sprechen. Naja...der Polizist muss einen verdächtigen "Turner" (Jawoll....gedenke man doch auch dem "Turnvater" Jahn) verfolgen und beide Gauss gelangen schließlich wohlbehalten nach Berlin, wo sie schon von einem umtriebig wuseligen Alexander von Humboldt in Empfang genommen werden. Sehr schön auch die Schilderung, wie man mit Hilfe der noch nicht so recht ausgereiften Erfindung des Herren Daguerre versucht "die Zeit festzuhalten"....

Nun...in diesem Stil wird uns schließlich das Leben der beiden ungleichen Geistesgrößen und Sonderlinge geschildert. Während Gauss sich an die Entdeckung der Mathematik (und schließlich auch der Physik) macht und eine 'innere Welt' bis an ihre Grenzen erforscht, begibt sich Humboldt zusammen mit seinem Kollegen Aimé Bonpland (von dem heute, wie Bonpland schon die ganze Geschichte über ahnte, kein Mensch mehr spricht) auf Entdeckungsreise nach Süd- und Mittelamerika, die 'äußere Welt' bis zu ihren Grenzen zu erforschen.
Am Ende bemerken die beiden mittlerweile schon ergrauten Herren, dass sie doch gar nicht so verschieden sind - auch wenn ihr Leben kaum unterschiedlicher hätte sein können.

Ich hab das Buch sehr genossen. Vor allem natürlich, da ich mich durch die geschilderten Eigenarten der beiden Protagonisten an den ein oder anderen hochbegabten (aber doch recht schrulligen) Zeitgenossen erinnert gefühlt habe, der meinen Weg bislang gekreuzt hat...natürlich entdeckt man auch die ein oder andere eigene 'Seltsamkeit' wieder. Ein weiteres Highlight ist für mich Kehlmanns Sprachgewalt. Nein, das Werk ist nichts für den "Wald-und-Wiesen-Gelegenheits-JerryCotton-Leser". Ganz im Gegenteil. Natürlich wirkt die Sprache (ich sage nur "lang lebe der Konjunktiv"!) etwas antiquiert, aber wir befinden uns ja schließlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nicht bei RTL.

Fazit: Ich hab schon lange nicht mehr ein so kurzweiliges und interessantes Buch gelesen. Lesebefehl!

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Daniel Kehlmann:
Die Vermessung der Welt
Rowohlt (2005)
304 Seiten