Samstag, 16. Oktober 2010

Es ist was faul im Staate Dänemark - Per Olov Enquist "Der Besuch des Leibarztes"

Dänemark ist ja nicht gerade das Lande, in dem die große Literatur spielt, sieht man einmal ab von Shakespeares düsterlaunigen Prinzen, der selbst auch schon feststellen musste, dass da etwas faul sei, im Staate Dänemark. Um so gespannter war ich auf den historischen Roman des schwedischen Autors Per Olov Enquist, der mir auf das Wärmste empfohlen wurde. Allerdings kann ich nicht ganz mit einstimmen, in den Chor der Lobesstimmen, die diesen etwas seltsam ausdruckslosen Roman begleiten...

Das Dänemark der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Zeit der Aufklärung stellt Per Olov Enquist in den Mittelpunkt seines historischen Romans "Der Besuch des Leibarztes". Der dänische König Christian VII. ist geisteskrank und alles andere als tatsächlich in der Lage, seine Macht auszuüben. Seiner Kamarilla ist das nur recht und billig, da man sich des gottgewollten Königs als (wenn auch nicht immer) willige Marionette bedienen kann, um das Land mit Macht zu regieren. So förderte man seine Geisteskrankheit noch durch psychische Foltermethoden, mit denen der heranwachsende König in Zeiten des Absolutismus recht frühzeitig ins Abseits gedrängt werden sollte.

Um eventuelle peinliche Auftritte des labilen Königs zu verhindern, stellte man ihm eigens einen geeigneten "Erzieher" zur Seite. So gerät auch der junge deutsche, von den Ideen der Aufklärung geleitete Arzt Johann Friedrich Struensee als Leibarzt des Königs in den Dunstkreis der Macht. Er wird zum 'Geheimen Kabinettsminister' des Königs und wird von diesem in den Grafenstand erhoben. Nach und nach zieht er alle Gewalt an sich und versucht seine auklärerischen Ideale per königlichem Dekret in die Tat umzusetzen. Allerdings macht er sich dadurch nicht gerade beliebt im Kreise der Hofschranzen und Minister. Zudem verliebt sich Struensee in die junge dänische Königin Caroline Mathilde. Die arrangierte Heirat zwischen Christian VII. und der englischen Prinzessin Caroline Mathilde, die sich nicht in den Zuchtplan des dänischen Herrscherhauses zwingen lassen will, stand von Anfang an nicht wirklich unter einem guten Stern. Eigentlich ist Christian sein Leben lang auf der Suche nach der "Stiefel-Catherine", einer Prostituierten, die ihm zugeführt worden war und die ihn unter der Maske seines Andersseins als den erkannt hatte, der er eigentlich war. Als ihr Einfluss auf den König offensichtlich zu werden beginnt, entfernt man sie aus Dänemark und fortan ist der König auf der Suche nach seiner "Herrscherin des Universums". Seine Frau, die Königin aber bleibt ihm fremd. So ist es der König selbst sogar, der seinem Leibarzt Struensee befiehlt, sich der Königin, anzunehmen:
"Die Königin leidet an Melancholia. Sie ist einsam, sie ist eine Fremde in diesem Land. Es ist mir nicht möglich gewesen, diese Melancholie zu lindern. Sie müssen diese Bürde von meinen Schultern nehmen. Sie müssen! sich ihrer annehmen." (Seite 245)
Struensee gewinnt bald immer mehr Macht und Einfluss im Dunstkreis des Königs. Obwohl er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen sieht, versucht er dennoch liberale Neuerungen einzuführen und setzt damit Presse- und Religionsfreiheit im vormals absolutistisch geprägten Königreich Dänemark durch. Caroline Mathilde erkennt in Struensee eine verwandte Seele und auch sie verliebt sich in ihn. So kommt es zum äußersten Sakrileg: die Königin erwartet von Struensee ein Kind.
"Es war das absolut Verbotenste, es war eine nackte Frau, und es war die Königin, aber deswegen war es auch der Tod. Begehrte man die Königin, rührte man an den Tod. Sie war verboten und begehrenswert, und rührte man an das Verbotenste, musste man sterben." (Seite 207)
Gleichzeitig tritt Struensees Gegenspieler Guldberg, ein radikal reaktionärer Emporkömmling, aus dem Hintergrund hervor und setzt alles daran, die Würde des dänischen Königtums zu erhalten. So kommt es, wie es kommen muss. Struensees Ausflug in die Sphären der Macht und der Traum von der Aufklärung enden schmählich in einem Putsch. Am 25. April 1772 nach viertägiger Verhandlung wird Struensee des Hochverrats schuldig gesprochen und am 28. April 1772 vor den Toren Kopenhagens geköpft, gevierteilt und auf das Rad geflochten.
"Der Plan war ganz einfach. Guldberg war immer der Auffassung gewesen, dass gerade die Einfachheit komplizierter Pläne diese erfolgreich machte. Man würde sich der Person des Königs bemächtigen. Man würde sich der Person Struensees bemächtigen...Als drittes würde man sich der Person der Königin bemächtigen. Angesichts dieses letzten Punktes befiel ihn doch eine Unruhe, die schwerer zu erklären war..."(Seite 410)
Soviel die zum Roman verdichtete historische Wahrheit. Per Olov Enquist macht daraus einen seltsam blass anmutenden historischen Roman, der über die Ereignisse überaus unparteiisch berichtet. Dabei fällt auf, wie er oft um die Fakten und Vorfälle kreist und sich vielfach dabei wiederholt. Mir persönlich fehlt dabei jeglicher Spannungsbogen. Auch tritt das 18. Jahrhundert selbst nur in Form einiger Aussagen über die darin herrschenden Geistesströmungen hervor. Auf historisches Lokalkolorit wird fast vollständig verzichtet. Die oft unbeholfen hervortretende Sexualität, die Enquist in den Szenen zwischen "Stiefel-Catherine" und dem König, bzw. zwischen Struensee und der Königin schildert, diese Szenen grenzen an das Bizarre und wirken vielfach aufgesetzt. Dabei lässt sich Enquist aber Zeit, die charakterlichen Tiefen seiner Protagonisten auszuloten. Oft schießt er dabei über sein eigentliches Ziel hinaus und Schilderung sowie innerer Monolog geraten zur quälenden Langeweile.

Fazit: Ein interessantes Lehrstück der Aufklärung aus einem kalten, nordeuropäischen Land, das in seiner Darstellung und Ausgestaltung aber leider ebenso unterkühlt gerät.

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Sonntag, 3. Oktober 2010

Was macht den Mensch zum Menschen? - T.C.Boyle 'Das wilde Kind'

Ist der Mensch von Natur aus gut? Das fragte sich der Philosoph und Aufklärer Jean-Jacques Rousseau, oder wird er dies erst durch seine Erziehung? Für den Denker und Theoretiker Rousseau war der Mensch seiner ursprünglichen Bestimmung nach gut. Um dies in der Praxis überprüfen zu können, bedurfte es eines Wilden. Diesen sollte man beobachten, wie er in Kontakt zur 'zivilisierten' Gesellschaft kommt und wie diese auf ihn und sein Inneres wirkt. Der unerhörte Fall von Victor von Aveyron, dem berühmten französischen "Wolfskind" kommt da den Aufklärern wie gerufen, um die Thesen Rousseaus in der Praxis zu testen...

T.C. Boyle erzählt in seiner Novelle 'Das wilde Kind' die Geschichte des 'Wolfskindes' Viktor von Aveyron, der 1797 von Jägern in Südfrankreich gefunden oder wohl besser 'gefangen genommen' wurde. Mehrfach gelingt es dem Kind sich zunächst seiner Gefangenschaft wieder zu entziehen, bis es schließlich um 1800 in die Obhut des jungen Pariser Arztes Itard gelangt, der mit 'Victor' ein groß angelegtes pädagogisches Experiment im Sinne Rousseaus startet.
"Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben...Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen." (Jean-Jacques Rousseau, Zweiter Diskurs)
Aber der Junge widersetzt sich seiner Domestizierung. Als man ihn einfing, war er nackt, verdreckt, stumm und anscheinend taub. Er ernährt sich hauptsächlich von Eicheln, Nüssen, Mäusen und Fröschen, die er roh verschlingt. Er wird in eine Taubstummenschule gebracht, in der sich der ehrgeizige Arzt Itard bemüht, den Jungen zu zivilisieren und zu erziehen. Aber auch Jahre intensiver Bemühungen scheinen vergebens. Als es Itard gelingt, dem Jungen mit unendlicher Geduld eine erste Lautäußerung -- den Vokal 'O' -- zu entringen, hört er von nun an auf den Namen 'Victor'. Aber das grundsätzlich 'Menschliche', also Mitleid oder Gerechtigkeitsempfinden bleiben ihm fremd. Zwar wird der irgendwann halbwegs domestizierte Wilde zur Attraktion der Pariser Salons, doch schläft das Interesse an ihm auch schnell wieder ein...und damit auch langfristig die Finanzierung des großen Experiments. Zum Problem letztendlich wird Victor als er in die Pubertät kommt und Interesse für das andere Geschlecht entwickelt. Das Experiment -- soviel sei schon an dieser Stelle verraten -- schlägt fehl. Victor verbleibt in der Pflegschaft des Hausmeisterehepaars der Taubstummenschule, wo er den Rest seines kurzen Lebens verbringen wird.

Auf nur knappen 100 Seiten schildert T.C. Boyle Victors kurzes Leben im Stile einer typischen Novelle. Die unerhörte Begebenheit, eben das Auffinden eines wilden Kindes, das von verarmten Bauern im Wald ausgesetzt wurde und wie durch ein Wunder dort auf sich selbst gestellt überlebte, macht nachdenklich und lenkt unseren Blick auf Rousseaus Fragestellung, ob der Mensch grundsätzlich gut sei und was ihn eigentlich vom Tier unterscheidet. Itard zur Folge, findet der Mensch seine herausragende Stellung nur in der Zivilisation. Ohne diese, sei er eines der schwächsten und unverständigsten Tiere. Er verteidigte seine Meinung auch dann noch gegen alle Einwände, als alle seine Versuche, Victor in die menschliche Gesellschaft einzugliedern, voll und ganz gescheitert waren. Diese historische Begebenheit versteht es T.C. Boyle auf prägnante Art mit einem melancholischen Unterton zu schildern. Was ist es eigentlich, das den Mensch zum Menschen werden lässt?

Darüber hinaus war ich verblüfft, dass in der Wikipedia 53 historische Fälle dieser 'Wolfskinder' verzeichnet sind, von denen Victor eines war, und sie reichen bis in unsere heutigen Tage. Nur 30 Jahre nach Victor wurde auch in Deutschland ein berühmtes wildes Kind gefunden: Kaspar Hauser, ein Findling, um den sich lange Zeit das Gerücht rankte, er sei Abkömmling einer badischen Fürstenfamilie, der als Kind über Jahre bei Wasser und Brot in Einzelhaft gehalten wurde, bis im seine Flucht gelang und er am 26. Mai 1828 plötzlich in Nürnberg auftauchte. Auch in der Literatur stößt man auf weitere berühmte wilde Kinder, so etwa auf Mowgli aus Rudyard Kiplings 'Dschungelbuch' oder Edgar Rice Burroughs 'Tarzan'.

Fazit: Eine kurze Novelle über das traurig stimmende Schicksal eines Menschenkindes, das grundsätzliche philosophische Fragen aufwirft.

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