Sonntag, 21. Februar 2010

Ein glückliches Ereignis - Rüdiger Safranski 'Goethe & Schiller, Geschichte einer Freundschaft'


'Ein glückliches Ereignis', so nannte Johann Wolfgang von Goethe seine Freundschaft mit Friedrich Schiller zurückblickend auf die wenigen Jahre, die den gemeinsamen Lebensweg dieser beiden Giganten der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte beschreiben. Für gut 10 Jahre standen Weimar und Jena im Mittelpunkt ihres gemeinsamen geistigen Schaffens und Wirkens und mit seinem neuen Buch 'Goethe & Schiller, Geschichte einer Freundschaft' gelingt es Rüdiger Safranski, diese Ausnahmefreundschaft lebendig, unterhaltsam und auch mit einem kleinen Augenzwinkern vor unserem geistigen Auge erblühen zu lassen.

Es gibt wohl kaum zwei Persönlichkeiten der deutschen Geistesgeschichte, die uns auch heute noch tagtäglich so präsent sind, wie Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Kaum einer verlässt heute die deutsche Schullandschaft, ohne nicht wenigstens über einen der beiden Literaten gestolpert zu sein, auch wenn sich ihr tatsächlicher Einfluss im Gegensatz zur Generation unserer Eltern und Großeltern heute hauptsächlich auf das beständig sich ausdünnende Bildungsbürgertum beschränkt. Rüdiger Safranski, der sich zuvor schon mit den Biografien Schillers, Nietzsches oder E.T.A. Hoffmanns befasst hatte, lässt in seinem neuen Buch 'Goethe & Schiller, Geschichte einer Freundschaft' ebendiese Männerfreundschaft chronologisch vor dem Auge des geneigten Lesers Revue passieren. Dabei stützt er sich weitgehend auf den von Goethe 20 Jahre nach Schillers Tod herausgegebenen Briefwechsel der beiden sowie auf zahlreiche weitere zeitgenössische Quellen, die feinsäuberlich im bibliografischen Anhang des Buches zusammengestellt wurden.


Er startet mit der ersten Begegnung des jungen Schillers mit dem 'Genie' Goethe, der im Jahre 1779 zusammen mit seinem Herzog Karl-August in offizieller Mission die Militärakademie der hohen Karlsschule in Stuttgart (heute Schloss Solitude) zum Zweck einer Preisverleihung an die Studenten besuchte. Der damals noch unbekannte Schiller war einer der Studenten der Karlsschule und der bereits in Amt und Würden tätige Goethe war durch seinen Roman 'Werther' und den 'Götz von Berlichingen' zu internationalem Ruhm gelangt. Aber es sollten noch 15 Jahre vergehen, ehe das 'glückliche Ereignis' eintreten konnte und sich die beiden tatsächlich kennen und wertschätzen lernten. Safranski schildert Charakter und Entwicklung der beiden Dichter und Denker bis zu diesem Zeitpunkt, wobei die beiden neben ihrem Genie eher gegensätzliche Positionen und Meinungen vertraten. Schiller wird berühmt als Autor der 'Räuber', dieses 1782 aufgeführten Meisterstücks der 'Sturm und Drang'-Zeit um den Konflikt zwischen Freiheit und Gesetz. Doch in diesen politischen instabilen Zeiten - die französische Revolution stand schon fast vor der Türe - brachte das von der Jugend umjubelte Stück seinem Autor reichlich Probleme. Herzog Karl-Eugen verwarnte den unbotmäßigen Autor mit 14 Tagen Festungshaft und verbot ihm fortan jegliche publizistische Tätigkeit. Schiller flieht und gerät 1787 schließlich nach Weimar, wo sich seine prekäre Lage langsam konsolidieren kann.

Während Schiller mit seinen 'Räubern' die Freiheit entdeckte, entdeckte Goethe an der Universität Jena den berühmten Zwischenkieferknochen, einem beim erwachsenen Menschen zurückgebildeten Knochen, dessen Existenz aber eine gemeinsame stammesgeschichtliche Entwicklung des Menschen und der Tiere nahelegte. Während Schiller vor seinem Herzog aus Stuttgart flieht, flieht Goethe vor seinen Verpflichtungen als Geheimer Rat am Weimarer herzoglichen Hof in seine gut 20 Monate währende Italienreise.
"Die Doppelexistenz als Pegasus und Amtsschimmel war ihm zu anstrengend geworden...Er fühlte seine poetische Ader austrocknen." (Seite 47)
Der reifere und erfahrenere Goethe sieht in Schiller auch immer ein wenig seine eigene jugendliche 'Sturm und Drang'-Zeit, die er als überwunden betrachtete. Revolution ist ihm etwas Schreckliches. Er ist zwar kein Verfechter der Adelsprivilegien, aber der mit der Revolution verbundene 'soziale Vulkanausbruch' ist ihm genauso wie alles andere 'Plötzliche und Katastrophische' verhasst, 'in der Natur ebenso wie in der Gesellschaft. Das Allmähliche zog ihn an. Er suchte nach Übergängen, vermied Brüche' (Seite 81). Diese Voreingenommenheit gegenüber Schiller verhinderte auch eine frühere Annäherung der beiden, so dass das 'glückliche Ereignis' ihrer näheren Bekanntschaft erst am 20. Juli 1794 stattfinden konnte.
"Wir gingen beide zufällig heraus, ein Gespräch knüpfte sich an, er (Schiller) schien an dem Vorgetragenen Teil zu nehmen, bemerkte aber sehr verständig und einsichtig und mir sehr willkommen, wie so eine zerstückelte Art die Natur zu behandeln, den Laien, der sich gern darauf einließe, keineswegs anmuten könne." (Seite 107)
Mit diesen Worten beginnt Goethe im Rückblick die Schilderung dieses ersten denkwürdigen Freundschaftsmoments, der die beiden Literaten für die folgenden 11 Jahre aneinander binden sollte.

Safranskis Darstellung ist übervoll mit Zitaten und kleinen Anekdoten, mit denen er es versteht die Persönlichkeiten seiner beiden Protagonisten plastisch zum Leben zu erwecken. Die schwierige Annäherung Schillers an Goethe während seiner anfänglichen Weimarer Zeit, gemeinsame Phasen hoher Produktivität sowie auch einzelner Trockenphasen, in denen der eine den anderen freundschaftlich beratschlagt und unterstützt, anhand zahlreicher Begebenheiten und Beispielen haben wir an dieser kurzen Hochzeit der 'Weimarer Klassik' teil. Für mich umso interessanter, da mir das Lokalkolorit aus meinen eigenen Jahren in Weimar und Jena sehr vertraut ist. Auch glaubt man manchmal ein kleines Augenzwinkern des ansonsten wissenschaftlich akribischen Autors zu erkennen, wenn er beispielsweise den Besuch Madame de Staels in Weimar schildert, zu dem sich Goethe durch gewollte Abwesenheit geschickt aus der Affäre zu ziehen versucht.
"Madame überraschte Weimar mit solch raffinierter Natürlichkeit, aber vorallem mit ihrer außerordentlichen Beredtheit. Man muss sich ganz in ein Gehörorgan verwandelt um ihr folgen zu können, berichtet Schiller, dem zuerst die Aufgabe zugefallen war, ihr gegenüber das geistige Weimar zu repräsentieren, da Goethe noch zögerte, von Jena herüberzukommen." (Seite 287)

Die epochemachende Freundschaft endete aber auch nicht mit Schillers viel zu frühem Tod 1805. Im Nachhinein steigerte und verklärte Goethe seinen Freund zusehends. Auch die Episode mit Schillers Schädel (der nachgewiesener Maßen gar nicht der von Schiller war) gibt zu denken. Dieser wurde 1826 anlässlich einer Erweiterung der Gewölbegrabstätte zusammen mit zahlreichen weiteren Gebeinen in Weimar exhumiert. Der Weimarer Bürgermeister Karl Leberecht Schwabe deklamierte dabei den größten gefundenen Schädel als Schillers Haupt, und dieser fand seinen Weg in Goethes Privatbibliothek, in der er ein gutes Jahr lang stehen sollte...
Am Ende fasst Goethe diese Freundschaft mit den folgenden Worten auf wunderbare Weise zusammen:
"Ein Glück für mich war es...dass ich Schillern hatte. Denn so verschieden unsere beiderseitigen Naturen auch waren, so gingen doch unsere Richtungen auf Eins, welches denn unser Verhältnis so innig machte, dass im Grunde keiner ohne den anderen leben konnte." (Seite 310)
Fazit: Eine wunderbare, sorgfältig recherchierte und aufbereitete Chronologie einer epochemachenden Freundschaft zwischen den beiden deutschen Geistesgiganten, die unsere Kultur für immer prägen sollten. Anspruchsvoll, aber durchaus immer unterhaltsam und interessant zu lesen. Lesen!

Links:

Samstag, 13. Februar 2010

Sexuelle Gewalt, Kaffee und belegte Brote - Stieg Larsson 'Verblendung'


Wenn ich ein allererstes Fazit zum gerade gelesenen ersten Band von Stieg Larssons Millenium-Trilogie ziehen soll - im Sinne von 'was habe ich Neues an Erkenntnissen gewonnen?' - dann ist es anscheinend die Tatsache, dass Schweden gerne zu jeder Tages- und Nachzeit frisch gebrühten Kaffee und belegte Brote genießen. Zumindest scheinen letztere eines der Hauptnahrungsmittel des Journalisten und Romanhelden Mikael Blomqvist zu sein, der in Stieg Larssons Kriminalromanen die männliche Identifikationsfigur liefert. Aber das alleine ist ja noch kein Grund, sich in die ersten knapp 700 Seiten der Trilogie von Bestsellern zu vertiefen.

Normalerweise zählen Kriminalromane - einmal abgesehen von den klassischen Vertretern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts - nicht gerade zu meiner bevorzugten Lektüre. Daher habe ich es auch guten Freunden zu verdanken, die uns alle drei Bände von Stieg Larssons Millenium-Trilogie geliehen und wärmstens ans Herz gelegt haben, dass sich dieses Buch überhaupt in meine Hände verirrt hat. Der erste Band ist in Deutschland unter dem Titel 'Verblendung' erschienen, wahrscheinlich weil der Verlag dachte, dass sich ein Roman mit dem (Original)Titel 'Männer, die Frauen hassen' nicht so gut verkaufen würde. Interessanterweise fiel mir gestern am Flughafen die englische Übersetzung in die Hände, die wiederum mit einem anderen Titel aufwarten konnte: 'The Girl with the Dragon Tattoo'. Ich glaube, wir dürfen froh sein, dass Klassiker wie 'Krieg und Frieden' oder 'Vom Winde verweht' (übrigens hier im biblionomicon besprochen) nicht heutzutage geschrieben wurden. Wer weiß, welche Titelverunglimpfungen uns dabei ins Haus stehen würden...

Was macht nun einen Roman wie 'Verblendung' so erfolgreich? Ist es die geschilderte Art von sexueller Gewalt, die uns hier gegenübertritt? Insgesamt ist das Genre der skandinavischen Krimis in Deutschland ja sowieso ein besonders erfolgreicher Dauerbrenner. Da diese aber bislang nicht zu meiner Lektüre zählen, kann ich leider nicht mit einem Vergleich aufwarten. Aber am besten erzähle ich erst einmal, worum es im Roman geht, natürlich ohne dabei die für Kriminalromane notwendige Auflösung zu verraten. Der Enthüllungsjournalist Mikael Blomqvist wird zu einer Geldstrafe und 3 Monaten Gefängnis wegen Verleumdung des Großindustriellen Wennerström verurteilt, weil er mit falschen Informationen hereingelegt wurde. Um seine Zeitschrift 'Millenium' zu schützen, zieht sich Blomqvist aus der Redaktion zurück und nimmt einen Auftrag des ehemaligen Unternehmers Henrik Vanger weit ab von Stockholm an. Alljährlich zu seinem Geburtstag erhält Henrik Vanger seit fast 40 Jahren anonym eine gepresste Blume geschickt. Das mysteriöse Geschenk steht im Zusammenhang mit seiner 1966 plötzlich verschwundenen Nichte Harriet. In all den Jahren seiner an eine Manie grenzenden Nachforschungen blieb ihm einzig der Schluss übrig, dass sie ermordet worden sein muss. Mikael Blomqvist bleibt laut Vertrag ein Jahr, um die Untersuchungen erneut aufzunehmen und eventuell neues Licht in das geheimnisumwitterte Familienleben der Vangers zu bringen, zu denen manch skurile und nicht gerade liebenswürdige Gestalten zählen.

Bevor Vanger Blomqvist den Auftrag anbietet, beauftragt er eine Agentur, die ihm umfassende Informationen über Blomqvist besorgen soll. Hier betritt Lisbeth Salander die Szene, ihres Zeichens eine genialisch begnadete Hackerin mit photografischem Gedächtnis, Tattoos und Piercings, auffallendem Sozialverhalten (Asperger-Syndrom?), 1.50 groß und 40 Kilo leicht. Sie erarbeitet (freiberuflich) ein Dossier über Mikael Blomqvist und gerät so langsam aber unaufhaltsam hinein in die spätere Aufklärungsarbeit um das Verschwinden von Harriet Vanger. Auf diesem Weg begegnen uns immer wieder (sexuell) gewalttätige Männer, seien es Salanders gerichtlich bestimmter, sadistischer Betreuer oder ein nach Bibelzitaten mordender Psychopath. Der ganze Roman gerät zu einer atemlosen Schnitzeljagd in der einzelne Puzzlestücke zu immer neuen Fährten führen, die den Leser in permanenter Spannung halten und nach Aufklärung verlangen. Dass neben der Gewalt hier auch wieder die Religion ins Spiel kommt, gepaart mit Alt-Nazis, Folter, Sexualität und Perversen, erinnert an das Erfolgsrezept Dan Browns, auch wenn Larsson bislang weniger mystisch daherkommt.

Das Interessanteste für mich am Roman ist das ungleiche Gespann Blomqvist und Salander, die gleich ihren klassischen Vorbildern Holmes und Watson den Fall zu lösen versuchen. Ganz klar kommt hier Lisbeth Salander die Rolle des Sherlock Holmes zu, zeigen doch beide soziale Auffälligkeiten und Skurilitäten bei gleichzeitiger Genialität. Blomqvist dagegen spiegelt weniger einen typischen Watson. Vielmehr verwundert seine 'unkompliziert freie' Einstellung gegenüber Partnerschaft und Sexualität, die übrigens auch bei Salander betont wird. Aber gerade auch diese Brüche in den handelnden Charakteren geben den Hauptfiguren eine interessante Note, so dass es dem geneigten Leser niemals langweilig wird. Dennoch hätte ich mir zumindest bei den Bösewichten der Geschichte etwas mehr Tiefgang gewünscht. So abnormal uns das Böse auch gegenübertreten mag, ist es doch auch das Wiedererkennen einzelner charakterlicher Merkmale in uns selbst, die uns erschauern lassen, wenn wir detaillierter in die abstruse Geisteswelt des Verbrechers eingeführt werden.
"Natürlich sind meine Taten sozial nicht akzeptabel, aber mein Verbrechen ist in erster Linie ein Verbrechen gegen die Konventionen der Gesellschaft. Der Tod kommt immer erst am Ende des Aufenthalts meiner Gäste, wenn ich ihrer überdrüssig geworden bin. Es ist immer wieder faszinierend ihre Enttäuschung zu sehen...Sie glauben, wenn sie mir zu Willen sind, dann werden sie überleben. Sie unterwerfen sich meinen Regeln. Sie fangen an, mir zu vertrauen, beginnen einen Kameraden in mir zu sehen, und bis zum Schluss hoffen sie, dass diese Kameradschaft etwas bedeutet. Die Enttäuschung kommt dann, wenn sie merken, dass ich sie an der Nase herumgeführt habe." (Seite 529)
Etwas seltsam auch das Zitieren von detaillierten Angaben zur verwendeten Computerhardware (iBook 400 MHz, etc.). Zwar zeigt dies, dass der Autor zum Zeitpunkt des Erscheinens (2005) auf der Höhe der Zeit war, lässt das Ganze aber heute in unserer besonders schnellebigen Zeit schon wieder etwas antiquiert wirken. Ich würde das ja gar nicht hier bemerkt haben, wenn es sich nicht durch das gesamte Werk gleich dem zuvor bemerkten 'Kaffee mit belegten Broten' hindurchziehen würde. Ich hatte sogar die Vermutung, dass es sich schlicht um Product Placement handeln könnte - werden doch Apple, Dell und IKEA prominent und immer wieder genannt -, das der aktuelle Rechteinhaber des millionenfach verkauften Romans teuer vermarktet. Dennoch bin ich gespannt, was die beiden Folgebände bringen werden, auch wenn ich mich jetzt erst einmal anderer Lektüre zuwenden werde.

Fazit: Ein flott zu lesender schwedischer Kriminalroman mit einem ungewöhnlichen Detektivgespann, einer ganzen Menge Gewalt und Sexualität, der aber durch seine spannende Konstruktion für äußerst kurzweilige Lektürestunden sorgen wird. Lesen!


Links:

Freitag, 5. Februar 2010

Ein Brief verändert die Welt - Keith Devlin 'Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks'


Es dreht sich tatsächlich um einen Brief, der den Gang der Welt im 17. Jahrhundert für immer verändern sollte und der zur Grundlage unseres heute alltäglich gewordenen Verständnisses für Begriffe wie Risiko oder Wahrscheinlichkeit werden sollte. Genauer genommen geht es um den kurzen Briefwechsel zweier großer Mathematiker, der die Geburt der Wahrscheinlichkeitsrechnung einläuten sollte, und der den Rahmen für ein kurzes Buch eines wichtigen Kapitels der Mathematikgeschichte aufspannt.

Keith Devlin, seines Zeichens Mathematiker, ist seit 1983 Kolumnist der britischen Zeitung 'The Guardian' und produzierte zahlreiche populärwissenschaftliche Sendungen der BBC zum Thema 'moderne Mathematik'. Im vorliegenden Buch 'Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks' führt er uns auf unterhaltsame Weise in die Geschichte der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung ein. Das scheint auf den ersten Blick nur bedingt zu einer spannenden Lektüre werden zu können. Als Rezensent bin ich wahrscheinlich auch aufgrund meiner mathematischen Ausbildung ein wenig voreingenommen, weshalb ich auch bei den nicht so mathematik-affinen Zeitgenossen im Voraus bereits um Entschuldigung für eventuell nicht zu begreifende 'Begeisterung' über mathematikgeschichtliche 'Kleinigkeiten' bitten möchte...

Untertitelt wird das Buch vom Verlag C.H.Beck mit dem Untertitel "Eine Reise in die Geschichte der Mathematik". Dabei werfen wir lediglich einen kurzen Blick auf einen kleinen, aber wichtigen Teilbereich dieser Wissenschaft, dessen Konsequenzen heute immer und überall unseren Alltag und unser Leben bestimmen. Diese Wichtigkeit zu betonen wird Keith Devlin auch nicht müde, und so wird es dem Leser Kapitel für Kapitel immer wieder und wieder mit vielleicht etwas zuviel Pathos vorgebetet.

Wie so manches andere mal auch, muss ich mich fragen, wer für die Übersetzung der Titel bei den Verlagen die Verantwortung trägt. Im Original lautet dieser "The Unfinished Game. Pascal, Fermat, and the 17th Century Letter That Made the World Modern.". Der Originaltitel trifft absolut den Inhalt des Buches, schließlich geht es um eben diesen Brief, den wir Stück für Stück in den 10 Kapiteln des Buches präsentiert und erläutert bekommen, und der am Ende noch einmal komplett in Kapitel 11 abgedruckt wird.
"Heutzutage erscheint uns der Gedanke, dass Zukunft etwas mit Wahrscheinlichkeiten zu tun hat, so selbstverständlich, dass wir uns das Leben kaum anders vorstellen können...." (Seite 9)
Was ist nun das Besondere an diesem Briefwechsel der beiden wohl größten Mathematiker ihrer Zeit? Pierre de Fermat ist vielleicht auch dem Nichtmathematiker ein Begriff. Die 'Fermatsche Vermutung' (heute 'Großer Fermatscher Satz'), ein Problem aus der Zahlentheorie, galt für Jahrhunderte als unlösbar, bis sie 1994 von Andrew Wiles tatsächlich bewiesen werden konnte. Ihr Ursprung lag in einem kleinen handschriftlichen Kommentar, den Fermat an den Rand eines Buches über Arithmetik des antiken Mathematikers Diophant kritzelte. Er habe dafür, so kommentierte er weiter, einen wunderbaren Beweis gefunden, für den aber der Platz am Rand dieses Buches nicht ausreiche. Und so bemühten sich ganze Mathematikergenerationen vergeblich, diesen 'verlorenen' Beweis der Fermatschen Vermutung zu erbringen. Dieses Vorgehen Fermats - eine mathematische Behauptung aufzustellen, aber deren Beweis nicht offenzulegen - hatte bei ihm übrigens Methode, wie Keith Devlin in seiner unterhaltsamen Lebensbeschreibung des großen Mathematikers berichtet. Übrigens war Fermat zeit seines Lebens lediglich ein mathematischer Amateur, d.h. sein eigentlicher Brotberuf war Anwalt. Er veröffentlichte keine mathematischen Schriften, sondern korrespondierte in Form von Briefen mit den Geistesgrößen seiner Epoche.

Fermats Gegenpart in diesem Briefwechsel war Blaise Pascal, ebenfalls ein Gigant in Sachen Philosophie und Mathematik. Sein Vater, Etienne Pascal war übrigens auch Mathematiker (und Steuereinzieher). Allerdings hielt er die Mathematik nicht förderlich für die moralische Entwicklung seines Sohnes und verweigerte ihm jeglichen Mathematikunterricht und mathematische Lektüre. Dies half allerdings nicht viel. Mit 12 Jahren bereits befasste sich der kleine Pascal heimlich mit Mathematik und entdeckte ohne fremde Hilfe die Grundlagen der Geometrie (er bewies, dass die Winkelsumme in einem Dreieck stets 180 Grad beträgt). Das Wunderkind veröffentlichte mit 16 Jahren seine erste wissenschaftliche Arbeit und konstruierte eine einsatzfähige, mechanische Rechenmaschine, um seinen Vater bei seiner Arbeit als Steuereinzieher zu unterstützen. (Den Programmierern und Informatikern unter uns dürfte Pascal durch die nach ihm benannte von Nikolaus Wirth entwickelte Programmiersprache bekannt sein.)

Das Problem, um das es sich im ersten im Jahre 1654 geschriebenen Brief des jungen Pascal an den berühmten Fermat drehte, war das Würfelspiel. Kurz beschrieben ging es darum, dass ein Spieler das gesamte Würfelspiel gewinnt, wenn er in 5 einzelnen Würfen gewonnen hat. Was passiert aber, wenn das Spiel bereits zuvor abgebrochen wird, wenn sagen wir, ein Spieler in 3 Würfen gewonnen hat und der andere nur in 2 Würfen. Wie muss dann der Gewinn aufgeteilt werden? Die Lösung zur Problematik des abgebrochenen Würfelspiels sollte zur Grundlage unserer modernen Wahrscheinlichkeitsrechnung werden. Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, dass zuvor der Begriff "Wahrscheinlichkeit", so wie wir ihn heute verstehen, keine Bedeutung hatte. Die Wahrscheinlichkeit beziffert die Chance eines Ereignisses, das noch nicht stattgefunden hat. Aus Sicht der damaligen Menschen, konnte aber kein Mensch Aussagen über die Zukunft machen, weil ja Gott alleine für diese verantwortlich ist und die Geschicke der Menschen leitet. Und Gott kann man nicht berechnen!

Mit der Geburt der Wahrscheinlichkeitsrechnung ändert sich das gesamte Weltbild. Die Zukunft wird tatsächlich berechenbar. Heute sind wir uns dessen bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit mit einem Flugzeug abzustürzen sehr, sehr gering ist. Wir schließen 'Wetten' auf dem Aktienmarkt ab, weil wir das Risiko einschätzen können. Jegliche Form des modernen Risikomanagements hängt mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff zusammen, und dieser nimmt seinen Ausgangspunkt in dem vorgestellten Briefwechsel.
"Nachdem das Problem des Spielabbruchs gelöst war und die Wahrscheinlichkeitstheorie akzeptiert wurde, setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Sterblichen über die Zukunft doch ein gewisses Maß an Kontrolle hatten." (Seite 60)
Das Buch gibt auch einen kurzen geschichtlichen Rückblick darauf, wie sich die Mathematiker vor Fermat und Pascal mit der Wahrscheinlichkeit herumgeschlagen haben, schließlich gab es bereits in der römischen Antike das Prinzip der 'Leibrente', d.h. man zahlt einmalig oder in Raten einen Betrag ein und erhält dann bis zu seinem Lebensende periodisch einen (festen) Betrag als Rente ausgezahlt. Der 'Rentenversicherer' schließt dabei eine Wette darauf ab, dass der Versicherte möglicherweise früher stirbt, als er dies dem Mittel nach täte.

Die Briefe Pascals und Fermats sind nicht wirklich einfach zu lesen - insbesondere, wenn man sich das Buch als Bettlektüre ausgesucht hat. Der Autor gibt sich aber große Mühe, diese in eine (fasst) allgemeinverständliche moderne Sprache mit einem Minimum an mathematischen Formeln zu übersetzen, was ihm nach meinem Dafürhalten sehr gut gelungen ist. Mir persönlich kam der Abriss der Mathematikgeschichte (der Wahrscheinlichkeit) etwas zu kurz - vor allem, wenn man den Untertitel der deutschen Ausgabe in Betracht zieht. Die Aufmachung des Buches besticht durch seinen sorgfältig gewählten, differenzierten Schriftsatz und die (leider etwas wenigen) Abbildungen. Ich hätte mir insgesamt noch etwas mehr Inhalt gewünscht.

Fazit: Ein sehr spezielles Buch das zwar ein Thema aufgreift, das heute zum Allgemeingut geworden ist, dessen mathematische Grundlagen doch für die meisten Laien einen Tick zu weit gehen werden. Trotz aller Allgemeinheit der Darstellung ist das Buch wahrscheinlich nur für einen kleinen Leserkreis interessant, für den das Buch dann selbst aber auch gerne etwas ausführlicher hätte ausfallen können.

Links: