Montag, 15. November 2010

Eine kurze Geschichte der verbotenen Bücher - Index Librorum Prohibitorum

Heute begehen wir den 44. Jahrestag der offiziellen Aufhebung des Index Librorum Prohibitorum, des Verzeichnisses der verbotenen Bücher der katholischen Kirche, der gut 500 Jahre lang bestanden hat. Jedem Katholiken wurde unter Androhung der Exkommunikation verboten, eines der im Index verzeichneten Bücher zu lesen, zu besitzen oder zu verbreiten. Das gedruckte Wort darf damit wohl als eine der schärfsten Waffe im Kampf gegen Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Dogma angesehen werden.

Kaum dass der Buchdruck und Gutenbergs Druckerpresse ab ca. 1440 für eine erste massenhafte Verbreitung neuer Ideen sorgte, entstand die Furcht, dass unliebsame bzw. "gefährliche" Gedanken allzuweite Verbreitung und Popularität gewinnen könnten. So führte der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Berthold von Henneberg (1441–1504) als erster deutscher Fürst mit seinem Edikt vom 22. März 1485 für alle ”aus dem Griechischen, Lateinischen oder einer anderen Sprache“ ins Deutsche übersetzten Bücher die Zensur ein mit dem Ziel, zu verhindern, dass bestimmte Kenntnisse und nur unter Gelehrten diskutierte Meinungen populär werden könnten:
”... gewisse Menschen, verführt durch die Gier nach eitlem Geld und Ruhm“ könnten ”diese Kunst missbrauchen.“
Zudem forderte der Bischof 1485 den Frankfurter Stadtrat auf, alle auf der Frühjahrsmesse ausgestellten, gedruckten Bücher auf ihren Inhalt zu prüfen und in Zusammenarbeit mit den kirchlichen Behörden gegebenenfalls zu verbieten. Zu diesem Zweck gründete das Kurfürstentum Mainz und die Freie Reichstadt Frankfurt 1486 gemeinsam die erste weltliche Zensurbehörde.

Aus der Erkenntnis von Staat und Kirche heraus, dass durch den Buchdruck unliebsame oder gefährlich erscheinende Ideen schnell und weit verbreitet werden könnten, wurde die Zensur bald schon etwas alltägliches. Ebenso wurde eine Übersetzung der Bibel vom Lateinischen in die Volkssprache unterdrückt, da -- so Henneberg -- ”die Ordnung der heiligen Messe“ durch die Übersetzung ins Deutsche ”geschändet“ würde.

Papst Leo X.(1475–1521) bestärkte 1515 dieses Verbot, da er eine wild wuchernde Verbreitung von ”Glaubensirrtümern“ befürchtete. Würde auf einmal jeder die Bibel zu lesen verstehen, werde diese entweiht und die alleinige Vormachtstellung des Klerus zur Auslegung der heiligen Schrift gefährdet.

Sowohl die Präventivzensur, die eine eingehende Prüfung der Schriftstücke bereits vor der Drucklegung durch die Zensurbehörde vorsah, als auch Repressivzensur, die sich auf bereits veröffentlichte Werke konzentrierte und deren weitere Verbreitung per Verbot oder Beschlagnahmung untersagte, wurden sogar durch päpstliche Bullen bereits durch Papst Innozenz VIII. (1432–1492) und Papst Alexander VI. (1430–1503) institutionalisiert. Zu diesem Zweck musste jedes von der katholischen Kirche genehmigte Buch mit einer Imprimatur (=[lat.] es darf gedruckt werden) der kirchlichen Behörden versehen sein. Zuwiderhandlungen wurden mit drakonischen Strafen – Exkommunikation und sehr hohen Bußgeldern, sowie Berufsverbot – bedroht.

1559 erschien erstmals der berühmte Index librorum prohibitorum, die schwarze Liste verbotener Bücher, der tatsächlich noch bis in das Jahr 1966 existierte, bis er von Papst Paul VI. (1897–1978) am heutigen Tage vor 44 Jahren offiziell aufgehoben wurde (mit Wirkum zum 29. April 1967). Zu den gefährlichen Büchern zählten unter anderem Liebesromane von Honore de Balzac und Alexandre Dumas, philosophische Werke Réné Descartes, die berühmte Encyclopédie der Aufklärung von Diderot und d'Alembert, aber auch Werke von Galileo Galilei, Heinrich Heine, Immanuel Kant oder Jean Paul Sartre. Einer der Gründe für seine Abschaffung war unter anderem, dass sich die katholische Kirche Mitte des letzten Jahrhunderts einer derartigen Flut von Neuerscheinungen ausgesetzt sah, dass eine umfassende, gründliche und zeitnahe Beurteilung derselben nicht mehr im Bereich des Machbaren lag -- abgesehen davon, dass die Fortführung des Indexes in Verbindung mit dem zugehörigen Strafkatalog als nicht mehr zeitgemäß erschien.

Zum Weiterlesen:




Nein, der Tod ist nicht nett - Markus Zusak 'Die Bücherdiebin'

"Ich bin nach Kräften bemüht, dieser Angelegenheit eine fröhliche Seite zu verleihen, Aber die meisten Menschen haben einen tiefsitzenden Widerwillen, der es ihnen unmöglich macht, mir zu glauben, so sehr ich auch versuche, sie davon zu überzeugen, Bitte glaubt mir: Ich kann wirklch fröhlich sein. Ich kann angenehm sein. Amüsant. Achtsam. Andächtig. Und das sind nur Eigenschaften mit dem Buchstaben "A". Nur bitte verlangt nicht von mir, nett zu sein. Nett zu sein ist mir völlig fremd."

Was für eine grandiose Idee, den Tod zum Erzähler der Geschichte zu machen, dachte ich mir. Der Anfang der 'Bücherdiebin' des australischen Autors mit deutsch-östereichischen Wurzeln Markus Zusak ist wirklich genial. Der Tod lamentiert, dass ihn die Menschen nicht verstehen. Wen wundert es? Aber das ist gar nicht die Hauptsache in diesem Buch. Vielmehr geht es darum, Jugendlichen und jungen Erwachsenen das stille Grauen einer Zeit vor Augen zu führen, die uns zwar durch die Augen der Medien heute schon so allgegenwärtig geworden ist, dass wir sie geflissentlich ignorieren oder auch schon gar nicht mehr sehen können oder mögen. Markus Zusak führt uns das Grauen des Nationalsozialismus und des Krieges durch die Augen des 10-jährigen kleinen Mädchens Liesel Memminger vor...

Die Geschichte beginnt damit, dass Liesel zu ihren neuen Pflegeeltern Hans und Rosa Hubermann gebracht wird. Auf der Zugfahrt nach Molching bei München stirbt ihr kleiner, kränkelnder Bruder und Liesel stiehlt während der Beerdigung ihr erstes Buch 'Das Handbuch für Totengräber', das einem der Totengräber aus der Tasche gefallen sein muss. Damit beginnt für Liesel ihre Karriere als 'Bücherdiebin'. Ihre neue Pflegemutter Rosa legt eine besonders rauhe Schale an den Tag, aber zu ihrem Pflegevater Hans fasst sie schnell Vertrauen. Er ist es, der sich an ihr Bett setzt und sie tröstet, wenn sie nachts von Albträumen geplagt wird. Er ist es auch, der mit ihr während der nächtlichen Stunden beginnt, gemeinsam ihr erstes Buch zu lesen und Liesel damit das Lesen beibringt. Die Bücher, die Liesel auf ihrem Weg begegnen sind mit ein paar Ausnahmen (Duden und 'Mein Kampf') fiktive.

Und dann ist da noch Rudi Steiner, mit dem sie Fußball spielt und der von den anderen spöttisch nur Jesse Owens genannt wird. Das rührt daher, dass sich Rudi in lauter Begeisterung für den dunkelhäutigen Olympiasieger eines Tages auf dem Sportplatz mit Kohle beschmiert und seine Runden läuft. Der Nationalsozialismus und der Krieg machen sich auch in Molching bemerkbar. Rudi hat so seine Probleme mit persönlichen Feindseligkeiten in der Hitlerjugend und die Hubermanns verstricken sich tiefer in Probleme als ihnen lieb ist. In ihrem Keller haben sie Max, einen Juden untergebracht und schützen ihn vor der Verfolgung. So ist die Angst vor Entdeckung allgegenwärtig, aber auf der anderen Seite wächst eine tiefe Freundschaft zwischen Liesel und Max heran, die ihr ganzes Leben, Denken und Handeln verändern wird.

Als der Krieg schließlich auch Süddeutschland erreicht, kommen die angstvollen Bombennächte im Schutzkeller. Und hier erweist sich Liesel als Heldin, als sie beginnt, aus einem ihrer Bücher vorzulesen und dadurch den Menschen für einen kurzen Moment die Angst nimmt. Auch Max hat ein Buch mit in den Keller der Hubermanns gebracht. Bizarrerweise ist es ausgerechnet Hitlers 'Mein Kampf', der aber zweckentfremdet wird, indem Max die Seiten mit weißer Farbe bemalt, um ein eigenes, neues Buch zu schreiben, das für seine Freundin Liesel gedacht ist und seine eigene Geschichte widerspiegelt. Der Krieg wird immer drückender, auch Liesels Ziehvater muss Soldat werden und das Dorf wird Zeuge, wie Juden auf ihrem Weg nach Dachau brutal durch die Straßen getrieben werden. Und mit dem Krieg kommt auch wieder der Tod.

So stark der Roman auch beginnt, auf seinem Weg durch die Geschichte lässt er immer wieder nach, um dann für einige Momente wieder aufzuflackern, die wirklich bemerkenswert sind. Auf mich wirkte er aber über weite Spannen etwas sehr getragen und an manchen Stellen arg konstruiert und pathetisch. Aber wenn man das Zielpublikum unter den sogenannten 'jungen Erwachsenen' ab 14 Jahren verortet, dann wird er seinen Zweck erfüllen, und dem jungen Publikum eine Zeit nahebringen, fern ab von den heute in dieser Altersgruppe über alle Maßen beliebten Zauberern und Vampiren. Er steht damit auch nicht alleine: John Boynes "Der Junge mit dem gestreiften Pyjama" versucht sich ebenfalls am Thema Holocaust, wirkt dabei aber nicht so steif, und überrascht durch die Perspektive eines kleinen Jungen, aus dessen Blickwinkel das allgegenwärtige Grauen eine ganz neue Seite gewinnt (siehe auch die Biblionomicon-Rezension). Aber auch Markus Zusak wählt mit dem personifizierten Tod als Erzähler der 'Bücherdiebin' eine ungewöhnliche Erzählperspektive, die den Roman überaus lesenswert macht. So erzählt der Tod von dem Grauen der Schlachtfelder und der Gaskammern, und wie er all die zarten Seelen behutsam aus den gequälten und geschundenen Körpern zieht. Es ist aber nicht das Leid der Sterbenden, das ihn umtreibt, sondern derer, die zurückbleiben müssen. Um diesem unerträglichen Leid auszuweichen, lenkt er seinen Blick jedesmal auf die Farben des Himmels, die immer wieder in den unterschiedlichsten Nuancen von der Schönheit des Lebens erzählen.
"Die Frage ist, welche Farbe die Welt angenommen haben wird, wenn ich euch holen komme. Was wird der Himmel uns erzählen? Ich persönlich mag einen schokoladenfarbenen Himmel. Dunkle Bitterschokolade. Die Leute behaupten, das passt zu mir. Ich versuche trotzdem, mich an jeder Farbe zu erfreuen, die ich sehe, an dem ganzen Spektrum. Etwa eine Milliarde Schattierungen, keine wie die andere, und ein Himmel, der sie langsam in sich aufsaugt. Das nimmt dem Stress die Schärfe. Und es hilft mir, mich zu entspannen."

Fazit: Ein ungewöhnliches Buch, nicht nur für Kinder und junge Erwachsene. Zwar stellenweise mit Schwächen, aber überaus lesenswert!

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Montag, 1. November 2010

So fern und doch so nah... - Samuel Pepys Tagebuch


Vor sage und schreibe 350 Jahren führte der Beamte des Londoner Flottenamtes Samuel Pepys über 10 Jahre hinweg ein Tagebuch sorgfältig und in Kurzschrift, d.h. nicht für jedermann zu lesen. Diesem glücklichen Umstand ist es zu verdanken, dass wir heute einen ungeahnten Einblick in das Leben des barocken Londons in den Jahren 1660-1669 gewinnen, aus der sehr persönlich gefärbten Perspektive eines bürgerlichen Aufsteigers und Genießers in der Zeit der Restauration des englischen Königtums unter Karl II. nach dem Tode Oliver Cromwells.


10. März 1666:
„Die meisten Männer, die es in der Welt zu etwas bringen, vergessen das Vergnügen während der Zeit, in der sie ihr Vermögen machen. Sie warten, bis sie es geschafft haben, und dann ist es zu spät, sich daran zu erfreuen.“
Tja, und genau das tut er auch, dieser Samuel Pepys, Beamter im Londoner Flottenamt, der es zum Präsidenten der Royal Society, zum Abgeordneten und Staatssekretär bringen soll. Dabei lässt er uns minutiös teilhaben an kleinen und großen Ereignissen in seinem Leben. 1633 in bescheidenen Verhältnissen geboren, ließ ihm ein wohlhabender Verwandter, Edward Montagu, der spätere Earl of Sandwich, eine gute Ausbildung angedeihen und nahm ihn unter seine Fittiche. Die Wirren der frühen Restaurationszeit nach dem Tode Cromwells überstand er als Sekretär Edward Montagues, der maßgeblich an den politischen Manövern zur Wiedereinführung der englischen Monarchie beteiligt war, unbeschadet und trat 1660 eine Stelle als Schreiber im Londoner Flottenamt an. Hier beginnt auch das besagte Tagebuch, das er annähernd 10 Jahre lang führen sollte.
8. März 1660
"Früh aufgebrochen. In Deal Pferde genommen. Hatte viel Mühe mit der Gitarre des Königs und mit Fairbrother, dem Halunken, dem ich aufgetragen hatte, zu Fuß zu gehen und sie zu tragen. Ich glaubte nämlich, ihn verfehlt zu haben. In Canterbury angekommen und dort gegessen. Den Pfarrer aufgesucht und die Überreste von Becketts Grab besichtigt...Nach Gravesend gekommen. Dort ein hübsches Mädchen geküsst, das erste, das ich seit langem gesehen hatte.
Mit Mylord zu Abend gegessen...Müde und erhitzt bei Mr. Moore zu Bett gegangen."
Seit 1665 gehörte Pepys auch der Royal Society an und lernt dort bedeutende Wissenschaftler seiner Zeit kennen, wie Isaac Newton, Christopher Wren, John Wilkins oder Robert Hooke, auch wenn er - wie er zugibt - deren Vorträge und Ausführungen nicht immer ganz verstand. Insbesondere sind es diese "kleinen" Schwächen, die er seinem Tagebuch anvertraut und die ihn für uns so lebensnah erscheinen lassen -- auch wenn er nicht unbedingt der liebenswerteste Zeitgenosse gewesen sein muss. Seine Freude und Begeisterung für guten Wein, Musik, Theater und natürlich das andere Geschlecht -- alles Dinge, die seiner puritanischen Erziehung zuwiderlaufen -- scheinen grenzenlos. Der Puritaner meldet sich nur in Form kleiner Gelübde zurück, die er alljährlich zum guten Vorsatz nimmt, um seinem Konsum an Alkohol und Vergnügen Herr zu werden.
20. August 1662:
"Mittag bei einem Mr. Barwell. Seine Frau sehr üppig gebaut, ihre Dienerin ein hübsches, braunhaariges Mädchen. Spüre, dass meine alte Neigung zum Wein wieder stärker wird."
Aber auch die großen historischen Ereignisse, wie die Ankunft des Königs Karl II. in England und das Wiedererstarken der Monarchie, der Krieg gegen die Holländer, die Pest und das große Feuer in London erleben wir aus Pepys ganz eigener Perspektive.
3. September 1665:
"Zog meinen neuen farbigen Seidenanzug an und meine neue Perücke. Was wohl für eine Mode in Perücken kommt, wenn die Pest vorüber ist? Jetzt wagt niemand, Haare zu kaufen, aus Angst, es könnte von einer Pestleiche stammen...Niemand nimmt sich die Probleme des Landes zu Herzen, jeder denkt nur an seinen persönlichen Vorteil oder an sein Vergnügen, der König kümmert sich nur um sein persönliches Wohlergehen - so treibt alles dem Untergang zu..."
Aber zu großer Popularität haben es doch die freizügigeren Stellen des Tagebuchs gebracht, auch wenn diese nur einen kleinen Teil des Pepyschen Universums einnehmen. Aber nichts bleibt ungesühnt. Natürlich bekommt Frau Pepys auch irgendwann Wind von den Eskapaden ihres Gattens und das wird nicht ohne Folgen bleiben...Aber bis dahin erfreuen wir uns an so herrlichen Einträgen wie diesen, den ich nicht weiter kommentieren muss:
2. Februar 1666:
"Zu Lord Brouncker, dort mit meiner lieben Mrs. Knipp zusammen gesungen. Stieg abends in ihre Kutsche, nahm sie auf meinen Schoß, spielte mit ihren Brüsten und sang."
Ein Buch wie dieses kommt nicht ohne Anhänge aus. Pepys Zeit ist nur den wenigsten von uns geläufig und so sind die vielen Erklärungen und Hintergrundinformationen unabdingbar sowohl für das Verständnis als auch für den Genuss des Werkes. Meine kleine Reclam-Ausgabe stellt auf ihren gut 400 Seiten auch nur einen Ausschnitt aus den insgesamt 9 Bänden der Pepyschen Hinterlassenschaft mit ihren mehr als 4.000 Seiten dar, die jetzt bei Zweitausendeins komplett erschienen sind (die kommen übrigens auf meinen persönlichen Wunschzettel). Wer sich von Pepys Charme überzeugen möchte, dem sei schon einmal das unten verlinkte Pepys Projekt anempfohlen, in dem das Tagebuch in deutscher Sprache als täglich fortgeschriebenes Blog zu lesen ist.

Fazit: Üppig, barockes Tagebuch eines minutiösen Chronisten seiner Zeit, der nichts hat anbrennen lassen, kein Blatt vor den Mund nimmt und uns öfters einmal einen Spiegel vors Gesicht hält. Großartig! Prächtig! Unbedingt lesen!

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Samstag, 16. Oktober 2010

Es ist was faul im Staate Dänemark - Per Olov Enquist "Der Besuch des Leibarztes"

Dänemark ist ja nicht gerade das Lande, in dem die große Literatur spielt, sieht man einmal ab von Shakespeares düsterlaunigen Prinzen, der selbst auch schon feststellen musste, dass da etwas faul sei, im Staate Dänemark. Um so gespannter war ich auf den historischen Roman des schwedischen Autors Per Olov Enquist, der mir auf das Wärmste empfohlen wurde. Allerdings kann ich nicht ganz mit einstimmen, in den Chor der Lobesstimmen, die diesen etwas seltsam ausdruckslosen Roman begleiten...

Das Dänemark der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Zeit der Aufklärung stellt Per Olov Enquist in den Mittelpunkt seines historischen Romans "Der Besuch des Leibarztes". Der dänische König Christian VII. ist geisteskrank und alles andere als tatsächlich in der Lage, seine Macht auszuüben. Seiner Kamarilla ist das nur recht und billig, da man sich des gottgewollten Königs als (wenn auch nicht immer) willige Marionette bedienen kann, um das Land mit Macht zu regieren. So förderte man seine Geisteskrankheit noch durch psychische Foltermethoden, mit denen der heranwachsende König in Zeiten des Absolutismus recht frühzeitig ins Abseits gedrängt werden sollte.

Um eventuelle peinliche Auftritte des labilen Königs zu verhindern, stellte man ihm eigens einen geeigneten "Erzieher" zur Seite. So gerät auch der junge deutsche, von den Ideen der Aufklärung geleitete Arzt Johann Friedrich Struensee als Leibarzt des Königs in den Dunstkreis der Macht. Er wird zum 'Geheimen Kabinettsminister' des Königs und wird von diesem in den Grafenstand erhoben. Nach und nach zieht er alle Gewalt an sich und versucht seine auklärerischen Ideale per königlichem Dekret in die Tat umzusetzen. Allerdings macht er sich dadurch nicht gerade beliebt im Kreise der Hofschranzen und Minister. Zudem verliebt sich Struensee in die junge dänische Königin Caroline Mathilde. Die arrangierte Heirat zwischen Christian VII. und der englischen Prinzessin Caroline Mathilde, die sich nicht in den Zuchtplan des dänischen Herrscherhauses zwingen lassen will, stand von Anfang an nicht wirklich unter einem guten Stern. Eigentlich ist Christian sein Leben lang auf der Suche nach der "Stiefel-Catherine", einer Prostituierten, die ihm zugeführt worden war und die ihn unter der Maske seines Andersseins als den erkannt hatte, der er eigentlich war. Als ihr Einfluss auf den König offensichtlich zu werden beginnt, entfernt man sie aus Dänemark und fortan ist der König auf der Suche nach seiner "Herrscherin des Universums". Seine Frau, die Königin aber bleibt ihm fremd. So ist es der König selbst sogar, der seinem Leibarzt Struensee befiehlt, sich der Königin, anzunehmen:
"Die Königin leidet an Melancholia. Sie ist einsam, sie ist eine Fremde in diesem Land. Es ist mir nicht möglich gewesen, diese Melancholie zu lindern. Sie müssen diese Bürde von meinen Schultern nehmen. Sie müssen! sich ihrer annehmen." (Seite 245)
Struensee gewinnt bald immer mehr Macht und Einfluss im Dunstkreis des Königs. Obwohl er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen sieht, versucht er dennoch liberale Neuerungen einzuführen und setzt damit Presse- und Religionsfreiheit im vormals absolutistisch geprägten Königreich Dänemark durch. Caroline Mathilde erkennt in Struensee eine verwandte Seele und auch sie verliebt sich in ihn. So kommt es zum äußersten Sakrileg: die Königin erwartet von Struensee ein Kind.
"Es war das absolut Verbotenste, es war eine nackte Frau, und es war die Königin, aber deswegen war es auch der Tod. Begehrte man die Königin, rührte man an den Tod. Sie war verboten und begehrenswert, und rührte man an das Verbotenste, musste man sterben." (Seite 207)
Gleichzeitig tritt Struensees Gegenspieler Guldberg, ein radikal reaktionärer Emporkömmling, aus dem Hintergrund hervor und setzt alles daran, die Würde des dänischen Königtums zu erhalten. So kommt es, wie es kommen muss. Struensees Ausflug in die Sphären der Macht und der Traum von der Aufklärung enden schmählich in einem Putsch. Am 25. April 1772 nach viertägiger Verhandlung wird Struensee des Hochverrats schuldig gesprochen und am 28. April 1772 vor den Toren Kopenhagens geköpft, gevierteilt und auf das Rad geflochten.
"Der Plan war ganz einfach. Guldberg war immer der Auffassung gewesen, dass gerade die Einfachheit komplizierter Pläne diese erfolgreich machte. Man würde sich der Person des Königs bemächtigen. Man würde sich der Person Struensees bemächtigen...Als drittes würde man sich der Person der Königin bemächtigen. Angesichts dieses letzten Punktes befiel ihn doch eine Unruhe, die schwerer zu erklären war..."(Seite 410)
Soviel die zum Roman verdichtete historische Wahrheit. Per Olov Enquist macht daraus einen seltsam blass anmutenden historischen Roman, der über die Ereignisse überaus unparteiisch berichtet. Dabei fällt auf, wie er oft um die Fakten und Vorfälle kreist und sich vielfach dabei wiederholt. Mir persönlich fehlt dabei jeglicher Spannungsbogen. Auch tritt das 18. Jahrhundert selbst nur in Form einiger Aussagen über die darin herrschenden Geistesströmungen hervor. Auf historisches Lokalkolorit wird fast vollständig verzichtet. Die oft unbeholfen hervortretende Sexualität, die Enquist in den Szenen zwischen "Stiefel-Catherine" und dem König, bzw. zwischen Struensee und der Königin schildert, diese Szenen grenzen an das Bizarre und wirken vielfach aufgesetzt. Dabei lässt sich Enquist aber Zeit, die charakterlichen Tiefen seiner Protagonisten auszuloten. Oft schießt er dabei über sein eigentliches Ziel hinaus und Schilderung sowie innerer Monolog geraten zur quälenden Langeweile.

Fazit: Ein interessantes Lehrstück der Aufklärung aus einem kalten, nordeuropäischen Land, das in seiner Darstellung und Ausgestaltung aber leider ebenso unterkühlt gerät.

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Sonntag, 3. Oktober 2010

Was macht den Mensch zum Menschen? - T.C.Boyle 'Das wilde Kind'

Ist der Mensch von Natur aus gut? Das fragte sich der Philosoph und Aufklärer Jean-Jacques Rousseau, oder wird er dies erst durch seine Erziehung? Für den Denker und Theoretiker Rousseau war der Mensch seiner ursprünglichen Bestimmung nach gut. Um dies in der Praxis überprüfen zu können, bedurfte es eines Wilden. Diesen sollte man beobachten, wie er in Kontakt zur 'zivilisierten' Gesellschaft kommt und wie diese auf ihn und sein Inneres wirkt. Der unerhörte Fall von Victor von Aveyron, dem berühmten französischen "Wolfskind" kommt da den Aufklärern wie gerufen, um die Thesen Rousseaus in der Praxis zu testen...

T.C. Boyle erzählt in seiner Novelle 'Das wilde Kind' die Geschichte des 'Wolfskindes' Viktor von Aveyron, der 1797 von Jägern in Südfrankreich gefunden oder wohl besser 'gefangen genommen' wurde. Mehrfach gelingt es dem Kind sich zunächst seiner Gefangenschaft wieder zu entziehen, bis es schließlich um 1800 in die Obhut des jungen Pariser Arztes Itard gelangt, der mit 'Victor' ein groß angelegtes pädagogisches Experiment im Sinne Rousseaus startet.
"Die Menschen sind böse; eine traurige und fortdauernde Erfahrung erübrigt den Beweis; jedoch, der Mensch ist von Natur aus gut, ich glaube, es nachgewiesen zu haben...Man bewundere die menschliche Gesellschaft, soviel man will, es wird deshalb nicht weniger wahr sein, dass sie die Menschen notwendigerweise dazu bringt, sich in dem Maße zu hassen, in dem ihre Interessen sich kreuzen, außerdem sich wechselseitig scheinbare Dienste zu erweisen und in Wirklichkeit sich alle vorstellbaren Übel zuzufügen." (Jean-Jacques Rousseau, Zweiter Diskurs)
Aber der Junge widersetzt sich seiner Domestizierung. Als man ihn einfing, war er nackt, verdreckt, stumm und anscheinend taub. Er ernährt sich hauptsächlich von Eicheln, Nüssen, Mäusen und Fröschen, die er roh verschlingt. Er wird in eine Taubstummenschule gebracht, in der sich der ehrgeizige Arzt Itard bemüht, den Jungen zu zivilisieren und zu erziehen. Aber auch Jahre intensiver Bemühungen scheinen vergebens. Als es Itard gelingt, dem Jungen mit unendlicher Geduld eine erste Lautäußerung -- den Vokal 'O' -- zu entringen, hört er von nun an auf den Namen 'Victor'. Aber das grundsätzlich 'Menschliche', also Mitleid oder Gerechtigkeitsempfinden bleiben ihm fremd. Zwar wird der irgendwann halbwegs domestizierte Wilde zur Attraktion der Pariser Salons, doch schläft das Interesse an ihm auch schnell wieder ein...und damit auch langfristig die Finanzierung des großen Experiments. Zum Problem letztendlich wird Victor als er in die Pubertät kommt und Interesse für das andere Geschlecht entwickelt. Das Experiment -- soviel sei schon an dieser Stelle verraten -- schlägt fehl. Victor verbleibt in der Pflegschaft des Hausmeisterehepaars der Taubstummenschule, wo er den Rest seines kurzen Lebens verbringen wird.

Auf nur knappen 100 Seiten schildert T.C. Boyle Victors kurzes Leben im Stile einer typischen Novelle. Die unerhörte Begebenheit, eben das Auffinden eines wilden Kindes, das von verarmten Bauern im Wald ausgesetzt wurde und wie durch ein Wunder dort auf sich selbst gestellt überlebte, macht nachdenklich und lenkt unseren Blick auf Rousseaus Fragestellung, ob der Mensch grundsätzlich gut sei und was ihn eigentlich vom Tier unterscheidet. Itard zur Folge, findet der Mensch seine herausragende Stellung nur in der Zivilisation. Ohne diese, sei er eines der schwächsten und unverständigsten Tiere. Er verteidigte seine Meinung auch dann noch gegen alle Einwände, als alle seine Versuche, Victor in die menschliche Gesellschaft einzugliedern, voll und ganz gescheitert waren. Diese historische Begebenheit versteht es T.C. Boyle auf prägnante Art mit einem melancholischen Unterton zu schildern. Was ist es eigentlich, das den Mensch zum Menschen werden lässt?

Darüber hinaus war ich verblüfft, dass in der Wikipedia 53 historische Fälle dieser 'Wolfskinder' verzeichnet sind, von denen Victor eines war, und sie reichen bis in unsere heutigen Tage. Nur 30 Jahre nach Victor wurde auch in Deutschland ein berühmtes wildes Kind gefunden: Kaspar Hauser, ein Findling, um den sich lange Zeit das Gerücht rankte, er sei Abkömmling einer badischen Fürstenfamilie, der als Kind über Jahre bei Wasser und Brot in Einzelhaft gehalten wurde, bis im seine Flucht gelang und er am 26. Mai 1828 plötzlich in Nürnberg auftauchte. Auch in der Literatur stößt man auf weitere berühmte wilde Kinder, so etwa auf Mowgli aus Rudyard Kiplings 'Dschungelbuch' oder Edgar Rice Burroughs 'Tarzan'.

Fazit: Eine kurze Novelle über das traurig stimmende Schicksal eines Menschenkindes, das grundsätzliche philosophische Fragen aufwirft.

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Montag, 27. September 2010

Wie die Hieroglyphen entziffert wurden...


Auf den Tag genau 188 Jahre ist es her, dass Jean Francois Champollion am 27. September 1822 vor der französischen Akademie der Inschriften und der schönen Literatur in Paris bekannt gab, dass er mit Hilfe des Steins von Rosette das Geheimnis der Hieroglyphen entschlüsselt habe. Aus Anlass des Jahrestages hier ein kleiner (erweiterter) Auszug aus der Geschichte der Entschlüsselung der Hieroglyphen - ein Thema, zu dem ich auch im Rahmen einer kleinen Mediengeschichte in meinem Buch 'Digitale Kommunikation' geschrieben habe.

Nach der Schließung der letzten ägyptischen Tempel im 5. Jhd. nach Christus ging jegliches Wissen über die Funktion und Bedeutung der Hieroglyphenzeichen verloren. Späteren Entzifferungsversuchen stand zunächst stets die Fehleinschätzung im Wege, daß es sich bei den ”heiligen Zeichen“ um Bildzeichen, jedes mit einer speziellen, heiligen Bedeutung handelte. Bereits der Philosoph Plotin (202–270 n. Chr.) schrieb, daß jede Hieroglyphe eine komplexe Vorstellung wiedergebe. Auch der Jesuit und Universalgelehrte Athanasius Kircher (1601–1980) scheiterte an ihrer Entzifferung, da er in ihnen Symbole sah, die jede für sich ”Einblicke in große Ideen und tiefe Geheimnisse beinhalten“ sollten. Die Situation änderte sich jedoch mit der Entdeckung eines Inschriftensteines aus schwarzem Basalt 1799 in Rosette (heute Raschid), einem Ort im westlichen Nildelta.

Im Jahre des Herrn 1798 landete Napoleons Expeditionskorps in Ägypten mit dem Ziel, strategisch wichtige Punkte entlang der lukrativen Handelsroute in den fernen Osten – zuerst Malta, dann Ägypten – in französischen Besitz zu bringen. Ein Offizier des Ingenieurkorps, Pierre Francois Xavier Buchard, fand den nach seinem Fundort benannten ”Stein von Rosette“ wohl eher aus Zufall bei der Beschaffung von Baumaterial für die Erweiterung einer Festungsanlage. Der Stein enthält drei Inschriften, die denselben Text – die Kopie eines Dekrets, erlassen von einer Priestersynode, in der sich diese beim Pharao Ptolemaios V. Epiphanes (204–180 v. Chr.) für dessen Großzügigkeit bedanken – in zwei Sprachen und drei Schriften
wiedergeben.

Das obere Drittel ist in Hieroglyphenschrift abgefasst, die Mitte in demotischer Schrift und der untere Teil in Griechisch. Der leicht lesbare griechische Text endete mit der Anweisung, das Dekret in den drei Schriften einzumeiseln. Daher mussten die drei Texte identisch sein. Der historische Wert des Steins wurde sofort erkannt und den französischen Wissenschaftlern, die Napoleon auf seinem Feldzug in Ägypten begleiteten, zur Verfügung gestellt. Nach der Kapitulation der Franzosen in Alexandria gelangte der Stein 1802 nach London ins Britische Museum, wo er noch heute ausgestellt ist.

In der Folgezeit entstand zwischen dem englischen Physiker Thomas Young (1773–1829), dem schwedischen Diplomaten Johann David Akerblad (1763-1819)und dem französischen Diplomaten und Linguisten Antoine Isaac Sylvestre de Sacy (1758-1838) ein erbitterter Wettbewerb um die Entzifferung der Hieroglyphen. Zwar konnten Übereinstimmungen einzelner Namen und Worte zwischen dem demotischen und dem griechischen Text schnell gefunden werden, doch eine vollständige Entzifferung blieb ihnen verwehrt, da es sich bei den Texten jeweils nicht um eine wortgetreue Übersetzung handelte und die Texte auf dem Stein nicht alle vollständig erhalten waren. Thomas Young gelang die Entzifferung einzelner Worte der Hieroglyphenschrift und er äußerte als erster die Vermutung, dass es sich bei diesen nicht ausschließlich um Wortsymbole sondern in einigen Fällen um einzelne Lautzeichen (Phonogramme) handeln könnte, doch der Erfolg blieb ihnen allen verwehrt.

Den richtigen Weg zur Entzifferung fand schließlich ein anderer, Jean Francois Champollion (1790–1832). Der ägyptenbegeisterte Champollion – ganz Frankreich wurde durch die Rückkehr des napoleonischen Expeditionskorps aus Ägypten in eine regelrechte Begeisterung für das Land und seine Kulturschätze gerissen – studierte bereits mit 13 Jahren neben Griechisch und Latein verschiedene orientalische Sprachen und wurde mit 19 zum Professor für alte Geschichte in Grenoble berufen, nachdem er sich in seiner Studienzeit (1807–1809) bereits erstmals – wenn auch erfolglos – an der Entzifferung des Steins von Rosette versuchte. In den Folgejahren wurde seine Arbeit durch die Wirren der Rückübernahme Frankreichs durch die Royalisten stark behindert. Als glühender Napoleon-Anhänger schrieb er Spottlieder auf die vom französischen Königsthron vertriebenen Bourbonen, die schnell sehr populär wurden. Nach Napoleons Verbannung und der Rückkehr der Bourbonen wurde Champollion zunächst nach Italien verbannt. 1821 konnte er schließlich nach Paris zurückkehren und beschäftigte sich von da an intensiv mit der Entschlüsselung des Steins von Rosette. Schließlich hatte er Erfolg und fand den Schlüssel zur Grundstruktur des hieroglyphischen Schriftsystems, d.h. er erkannte mit Hilfe quantitativer Symbolanalysen, dass es sich dabei um eine Kombination aus Bild und Lautzeichen handeln musste.
Die Ermittlung der ersten alphabetischen Lautwerte war ihm über die Schreibung des Königsnamens Ptolemaios gelungen, die im hieroglyphischen Textteil durch einen ringförmigen Rahmen, einer sogenannten Kartusche, hervorgehoben war. Er übertrug einfach den Lautwert der korrespondierenden griechischen Buchstaben und erfasste so die phonetische Bedeutung der entsprechenden Hieroglyphenzeichen. Dann überprüfte er die Deutung an der Namensschreibung anderer ptolemäischer und römischer Könige und Königinnen. In Philae fand man 1814 einen Obelisken mit einer zweisprachigen Inschrift in Griechisch und in Hieroglyphenschrift, der eine Kartusche mit dem Namen der ägyptischen Königin Kleopatra trug. Der Vergleich der Hieroglyphenzeichen der Namen Ptolemaios und Kleopatra führte Champollion auf die richtige Spur. Er erkannte, dass einzelne Hieroglyphen für Buchstaben standen, andere für Buchstabenkombinationen, ganze Wörter oder dass sie sogar kontextbestimmend eingesetzt waren. Der Schlüssel zur weiteren Entzifferung der Hieroglyphen war gefunden. Im September 1822 gelang es ihm, ein vollständiges System zur Entzifferung der Hieroglyphen aufzustellen.

Literatur:
  • C. Andrews: The Rosetta Stone, British Museum Press, London, 1981.
  • Ch. Meinel, H. Sack: Digitale Kommunikation, Springer, 2009.

Samstag, 25. September 2010

Philosophischer Rundumschlag - Aurelius Augustinus 'Bekenntnisse'

Wie kommt man eigentlich dazu, sich das anzutun, eine 1600 Jahre alte autobiografische Schrift zu lesen, durch und durch gefärbt von Platonismus und frühem Christentum, die zudem als eine der einflussreichsten der Weltliteratur zählt. Dass ich dazu die 1888 erschienene Reclam-Ausgabe in der Übersetzung von Otto Lachmann in Fraktur-Schrift gewählt habe, macht die Sache auch nicht einfacher. Aber nach gut 4 Wochen Lektüre war es geschafft und es stellt sich die Frage, war es den Aufwand wert? Die Antwort darauf versuche ich hier kurz zu begründen....

Aurelius Augustinus, geboren im Jahre des Herren 354 in Thagaste, Numidien (heute Algerien), schrieb etwa um das Jahr 400 herum seine 'Bekenntnisse' (Confessiones), in denen er seine Autobiografie vorlegt, d.h. seinen (langen) Weg zum Christentum erzählt, durchsetzt von zahlreichen philosophischen Betrachtungen des neuen Glaubens und reichlich Gotteslob und Bibelzitaten. Der Inhalt lässt sich daher recht leicht zusammenfassen:

Er startet mit seiner Kindheit und seinem Heranwachsen zum Knaben und leitet dabei aus seinen eigenen Erinnerungen und Beobachtungen Überlegungen zu den kognitiven und moralischen Fähigkeiten eines Kindes ab. Als Sohn einer wohlhabenden Familie (seine Mutter Monika war bereits Christin) musste er nie Hunger leiden. Dennoch, so erinnert er sich, beging er als Jugendlicher die Sünde des Diebstahls und fragt sich nach den Beweggründen, die ihn und seine Freunde zu diesen Taten getrieben haben. Er kommt nach Karthago, um dort Rechtswissenschaften und Rhetorik zu studieren, wo er in Kontakt mit dem Manichäismus kommt. Der Manichäismus ist eine sogenannte synkretistische Lehre, in deren Bestreben es lag, Weisheiten und Wissen aus anderen Religionen miteinander zu vereinen. Sie entstand im frühen 3. Jahrhundert und ist benannt nach ihrem Begründer, dem Perser Mani, dessen Lehre die Existenz eines Reich des Lichts (des Guten) dem der Finsterniss (des Bösen) entgegensetzte.

Im Alter von 29 Jahren kommt Augustinus nach Mailand. Dort lernt er den Bischof und Kirchenlehrer Ambrosius kennen, der sein Mentor werden sollte und ihn auf den rechten Weg zu Gott und in die Gemeinschaft der Christenheit lenkt. Interessant fand ich hier die mir bereits zuvor bekannte Schilderung Ambrosius über die Art und Weise, wie in der Spätantike gelesen wurde:
"Und wenn er las, schweiften die Augen über die Seiten und das Herz erforschte den Sinn, er selbst aber schwieg." (6. Buch, 3. Kapitel)
Das stille Lesen für sich selbst war eher ungewöhnlich, in einer Zeit, da nur sehr wenige überhaupt lesen konnten und es üblich war, das Gelesene laut auszusprechen, und das nicht nur, damit es andere, die nicht des Lesens mächtig waren, mitlesen konnten (siehe dazu auch mein Artikel 'Kurze Kulturgeschichte des Lesens').

Im Alter von 33 Jahren erst wird Augustinus schließlich getauft. Augustinus braucht recht lange dazu, diesen Schritt für sich selbst zu begründen und versucht es dem Leser in aller Ausführlichkeit zu erläutern. Der Tod seiner Mutter Monika lässt ihn seine rhetorischen Studien in Mailand beenden und wieder zurück in seine afrikanische Heimat ziehen. Zur Zeit der Abfassung des Textes ist Augustinus bereits Bischof von Hippo und schildert mit großer Genauigkeit seinen Gemütszustand, der in einer psychologischen Abhandlung über das Gedächtnis und die fünf Sinne mündet.

Das darauffolgende Kapitel ist dem Phänomen der Zeit und ihrer Bedeutung gewidmet, insbesondere auch ihrem Gegenteil, der Ewigkeit. Allgemein bekannt daraus ist die folgende vielzitierte Passage:
"Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand darnach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, weiß ich es nicht; mit Zuversicht kann ich jedoch wenigstens sagen, daß ich weiß, daß wenn nichts verginge, es keine vergangene Zeit gäbe, und wenn nichts vorüberginge, es keine zukünftige Zeit gäbe..." (11. Buch, 14. Kapitel)
Danach weitet er seine Betrachtungen aus und reflektiert über das Buch Genesis, das er einer genauen sprachlichen Analyse unterzieht, um die Geschichte der Schöpfung besser zu verstehen. Das letzte Kapitel gipfelt dann in seinen Betrachtungen über das Wesen der Dreieinigkeit Gottes, die er abgrenzt von dem unserer menschlichen Erfahrungswelt zugänglichen Wissen:
"Sein, Wisen und Wollen. Ich bin, ich weiß, ich will; ich bin, der weiß und der will; ich weiß, daß ich bin und daß ich will; ich will sein und will wissen..." (13. Buch, 12. Kapitel)
Sprachlich etwas sperrig mit vielen Abschweifungen und philosophisch, logisch anspruchsvollen Passagen, aber immer wieder überraschend interessante Einsichten bietet dieses Buch. Im Gegensatz zu vielen Romanen eignet es sich durchaus als Bettlektüre, d.h. in kleinen Häppchen vor dem Schlafengehen genossen. Allerdings darf man dann nicht zu müde sein, denn sonst kommt man nicht mehr mit und verliert sich zwischen den Zeilen. Natürlich ist es an einigen Stellen für unseren heutigen Geschmack zu lang geraten. Allzuviel des Gotteslobes ermüden den ein oder anderen Leser und manche logische Schlussfolgerung und Beweisführung lässt sich nicht wirklich nachvollziehen. Dennoch kann ich das Buch guten Gewissens weiterempfehlen.

Fazit: Schwergewichtiges, sperriges und nicht einfach zu lesendes philosophisches Werk der Weltliteratur, das durchaus interessante Einsichten auch für den heutigen Leser bereithält. Aber Vorsicht: Nicht für jedermann!

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Sonntag, 22. August 2010

Großes Kino - Stendhal 'Die Kartause von Parma'


Wahrhaftig 'Großes Kino!' So und nicht anders würde ich diesen Roman Standhals zusammenfassen, wenn ich ihn in nur zwei Worten beschreiben sollte. Aber es gibt ja so viel mehr über diesen inhaltsschwangeren und facettenreichen großen Roman des 19. Jahrhunderts zu erzählen. Aber am besten erst einmal alles von Anfang an...

Vor gut drei Jahren hatte ich das Vergnügen, Stendhals "Rot und Schwarz" in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl zu lesen und zu rezensieren (damals noch in meinem Wissenschaftsblog 'more semantic...!'). Kurzum, ich war begeistert von diesem Roman, der Vielschichtigkeit und der lebhaften Schilderung der darin handelnden Charaktere, dass ich mich lange schon auf die Neuübersetzung von Stendhals letzten großen Roman 'Die Kartause von Parma' gefreut habe.

Die Handlung des Romans spielt in Italien, der 'Wahlheimat' des Autors Henri Beyle, der seine Werke unter dem Pseudonym 'Stendhal' veröffentlichte. Italien spielte für Stendhal immer eine ganz besondere Rolle. Als junger Mann lernte er es zuerst im Gefolge von Napoleons Italien-Feldzug kennen und später brachte er es sogar zum französischen Konsul in der Hafenstadt Civitavecchia im italienischen Kirchenstaat. Mit dieser 'italienischen Seite' hat er übrigens eine Gemeinsamkeit mit seinem älteren Zeitgenossen Johann Wolfgang v. Goethe, dessen 'Italienische Reisen' für ihn als Künstler prägend waren. Aber zurück zu unserem Roman...

Napoleon erreicht mit seiner Armee 1796 Oberitalien. Der Marchese del Dongo, ein Mailänder Adeliger im Dienste Österreichs muss in sein Schloss Grianta am Comer See fliehen. Seine Schwester, Gina del Dongo, schlägt eine lukrative Partie aus und heiratet zum Entsetzen ihres Bruders den mittellosen Grafen Pietranera, einen italienischen Parteigänger Napoleons. Fabrizio del Dongo ist der zweitgeborene Sohn des Marchese und seine Tante Gina ist in ihn vernarrt. Als Napoleon stürzt und nach Elba verbannt wird, wendet sich auch das Schicksal der Pietraneras: der Graf wird im Duell getötet. Der Marchese holt seine Schwester nach Schloss Grianta, wo sie von nun an großen Einfluss auf den jungen und hübschen Fabrizio, ihren Augenstern, ausübt.

(Gräfin Pietranera zu Fabrizio) "Sprechen Sie doch mit etwas mehr Achtung...von dem Geschlecht, dem Sie Ihr Glück verdanken werden; den Männern werden Sie nämlich missfallen, Sie haben zuviel Feuer für die prosaischen Seelen." (Seite 46)
Als die Nachricht eintrifft, Napoleon sei 1815 im Golf von Juan auf kontinentaleuropäischen Boden gelandet, kennt Fabrizios Begeisterung keine Grenzen mehr. Ausgerüstet mit den wenigen Mitteln seiner Mutter und seiner Tante macht er sich heimlich auf den Weg nach Paris, um mit seinem Helden Napoleon in die Schlacht zu ziehen. Aber so einfach gestaltet sich die Sache nicht. Der falsche Pass und sein fremdklingender Akzent sorgen schnell dafür, dass er für einen Spion gehalten und verhaftet wird. Nach einigen Irrungen und Wirrungen gelingt es ihm schließlich, sich bis nach Waterloo durchzuschlagen, wo er die große Entscheidungsschlacht erlebt, obwohl er sich am Ende gar nicht mehr sicher ist, ob es überhaupt eine Schlacht gewesen war.

Die Schilderung dieser das Schicksal Europas entscheidenden Schlacht aus Fabrizios Perspektive ist etwas völlig neues für die Literatur des 19. Jahrhunderts. Es werden keine großen strategischen Schlachtbewegungen geschildert, sondern vielmehr das durch und durch konfuse Hetzen, Flüchten, Plündern und Überleben am Rande des großen Geschehens, gesehen mit Farizios Augen, der über das Schlachtfeld irrt. Sicher sind wir heutzutage ganz Anderes gewöhnt, denkt man an Erich Maria Remarques 'Im Westen nichts Neues' oder an Filme wie 'Saving Private Ryan'. Aber für die Menschen des 19. Jahrhunderts war diese Art der Schilderung etwas bis dato Unerhörtes. Und so kann sich etwa auch Honoré de Balzac gar nicht wieder bremsen, wenn er Stendhals Schlachtenschilderung als einmalig und nie dagewesen preist.

Als Fabrizio nach Italien zurückkehrt, wird er von seinem Vater verflucht und von der österreichischen Regierung auf die 'schwarze Liste' gesetzt, weil er in die Verschwörung von 1815 gegen die Sicherheit Europas verwickelt war. Mit der Hilfe seiner Tante Gina, die jetzt ihren zurückgekehrten Helden vergöttert, gelingt es ihm im Piemont unterzutauchen. Im Rahmen dieser Flucht trifft Fabrizio auf General Fabio Conti, einem 'Operettengeneral' aus der Armee des Fürsten von Parma und dessen reizende Tochter Clelia, bei der unser heldenhafter Fabrizio einen nicht unbedeutenden Eindruck hinterlässt.

Die schöne, aber immer noch mittellose Gräfin Pietranera geht nach Mailand, wo sie Graf Mosca della Roverre, den ersten Minister des Fürsten Ernesto IV. von Parma kennenlernt, der sich unsterblich in sie verliebt. Graf Mosca wird als der ideale, aufgeklärte Diplomat geschildert und ist laut Balzac dem Vorbild Fürst Metternichs bis ins kleinste nachempfunden.

"...nehmen Sie zur Kenntnis, Fürst, dass es in diesem Jahrhundert nicht mehr genügt, von der Vorsehung die Macht zu erhalten, man braucht viel Geist und einen großen Charakter, um mit Erfolg Despot zu sein." (Seite 396)
Graf Mosca gelingt es, die Gräfin Pietranera zu überreden, zu ihm in das Fürstentum Parma zu kommen. Aber der Graf ist bereits verheiratet und an Scheidung ist in den damaligen Zeiten und in Italien nicht zu denken. Sein Plan, mit dem es ihm gelingt, die Gräfin zu überzeugen, sieht eine (formelle) Heirat der Gräfin mit dem alten und karriereversessenen Herzog Sanseverina vor, der Graf Mosca verpflichtet ist. Auch für den in der Verbannung lebenden Fabrizio findet Graf Mosca eine Lösung, in die die Herzogin Sanseverina schlussendlich zustimmt: für ihn ist eine Kirchenkarriere geplant.

"Er (Fabrizio) beschloss, die Herzogin niemals zu belügen, und gerade weil er sie in diesem Augenblick abgöttisch liebte, schwor er sich, ihr niemals zu sagen, dass er sie liebe, niemals würde er ihr gegenüber das Wort Liebe aussprechen, denn die Leidenschaft, die man so nennt, war seinem Herzen nun einmal fremd." (Seite 205)
Der geneigte Leser dieser Rezension erkennt bereits jetzt, da sich gerade einmal die Ausgangssituation der sich nun entspannenden, verwinkelten Liebesgeschichte abzeichnet, zwischen Fabrizio und der jungen Clelia, der Herzogin Sanseverina, die sowohl ihren Neffen abgöttisch liebt als auch dem Grafen Mosca gegenüber aufrichtige Liebe empfindet, und dem Grafen Mosca, der seinerseits unsterblich in die Herzogin Sanseverina verliebt ist, aber vom Stachel der Eifersucht gequält wird, dass Stendhal hier einen prallgefüllten Roman vorgelegt hat, der eigentlich Stoff für zahlreiche weitere Bände geliefert hätte. Dabei wird Fabrizio noch einen Mord begehen, wird eingekerkert, aber durch die Hilfe Clelias und der Herzogin gelingt ihm seine Flucht. Seine kirchliche Laufbahn und die Heiratsverpflichtung Clelias gegenüber einem reichen Marchese verkomplizieren den weiteren Verlauf ihrer Liebesbeziehung zusehends. Zwar gelingt es Stendhal am Ende den Knoten zu lösen, aber dieses Ende erscheint dann doch etwas abrupt. Es geht das Gerücht, dass Stendhals Verleger zahlreiche Kürzungen durchgesetzt haben soll, damit die Ausgabe in zwei Bänden veröffentlicht werden konnte. Zudem hat Stendhal diesen knapp 700 Seiten langen Roman in nur gerade einmal 53 Tagen geschrieben bzw. diktiert. Eine unglaubliche Leistung.

Besonders hervorzuheben an der vorliegenden Ausgabe des Romans sind die zahlreichen mehr als 300 Seiten umfassenden Anhänge, die vielfältiges Material zur Entstehungsgeschichte des Werkes, zur Übersetzung und zur Rezeptionsgeschichte enthalten. Darunter auch eine 70(!)-seitige fulminante Rezension von Honoré de Balzac, mit der ich mich hier auf gar keinen Fall messen möchte, und ein Briefwechsel zwischen Stendhal und Balzac.

Vergleiche ich die 'Kartause' mit 'Rot und Schwarz', so fällt meine Präferenz eher für letzteres Werk aus, obwohl von vielen behauptet wird, die 'Kartause' sei der bessere Roman. Allerdings empfinde ich die am Ende doch stark komprimierte Auflösung der Handlung als etwas störend. Auch wenn beide Werke quasi mit einer Art 'moralinsauren Zeigefinger' enden, bleibt Stendhal ein großartiger Erzähler. Und dies hat er mit Sicherheit auch Elisabeth Edl zu verdanken. 'Die Kartause von Parma' liest sich zügig wie in einem Rausch und die 700 mit Handlung prallgefüllten Seiten hat man bereits nach kurzer Zeit verschlungen. Stendhals Figuren sind plastisch modelliert, eine jede mit Ecken und Kanten, die ihnen individuelle und unverwechselbare Züge verleihen. Ich bin sicher, dass ich dieses Buch nicht zum letzten Mal gelesen habe.

Fazit: Großartiger Roman in historischem Ambiente mit komplexer, aber nicht komplizierter Handlung und facettenreichen Charakteren. LESEN!

Nachschlag:
Übrigens, Stendhal schreibt in der 'Kartause von Parma' auch über den Einsatz von Kryptografie und verschlüsselter Kommunikation. Leider etwas dilettantisch, aber dazu mehr in meinem Blogbeitrag 'Schuster bleib bei deinen Leisten - Stendhal und die Kryptografie' in meinem wissenschaftlichen Blog '...more semantic!'.

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Sonntag, 8. August 2010

Auf den Spuren Prousts - Muriel Barbery 'Die letzte Delikatesse'

"Worüber man nicht reden kann, muss man schweigen." So zumindest sagt es uns Ludwig Wittgenstein. Stellen wir uns einmal vor, wir müssten jemanden unseren Lieblingsgeschmack beschreiben. Klingt einfach? Hmm... Wie können wir denn sicher sein, dass jemand das gleiche Geschmacks- und Geruchsempfinden hat, wie wir? Wie können wir sicher gehen, wenn wir sagen, etwas schmeckt nach "Huhn", dass unser Gegenüber die gleiche sensorische und geschmackliche Erinnerung heraufbeschwört bzw. erfahren hat, wie wir selbst? Noch schwieriger wird es mit abstrakten Geschmacksrichtungen: Der Wein schmeckt nach Spätsommer? OK...aber wie schmeckt eigentlich Spätsommer? Nichtsdestotrotz bedient sich der Gastronomiekritiker der wunderbarsten Metaphern, Bilder und Vergleiche, die das geschmackliche Sensorium auf alle unsere fünf Sinne inklusive des vielfältig facettenreichen menschlichen Gemüts- und Gefühlslebens abzubilden verstehen.

Und um so einen Gastronomiekritiker, genauer um den König der Gourmets, geht es in Muriel Barberys Roman 'Die letzte Delikatesse'. Der Inhalt des kurzen Bändchens ist schnell erzählt. Pierre Arthens, ein maßloser Gourmet und der König der Restaurantkritiker liegt im Sterben. Ihm bleiben nur noch 48 Stunden und er versucht in seinen Erinnerungen den einen und absoluten Geschmack heraufzubeschwören, um noch einmal das köstlichste, das er jemals genießen durfte, ein allerletztes mal zu kosten.
"Ich werde sterben, und es gelingt mir nicht, mich an einen Geschmack zu erinnern, der mir nicht aus dem Herzen will. Ich weiß, dass dieser Geschmack die erste und letzte Wahrheit meines Lebens ist, dass in ihm der Schlüssel zu einem Herzen verwahrt liegt, das ich seither zum Schweigen gebracht habe."(Seite 9)
Seine Suche nach diesem aboluten Geschmack führt uns durch verschiedene Stationen seines Gourmetlebens, von den allerersten Anfängen sinnlichen und geschmacklichen Erlebens über sein Debut als Kritiker bis hin zu seinen großen Erfolgen. Dabei wechseln sich Erinnerungskapitel jeweils mit Stimmen seiner Familie, seiner Bekannten, seiner Freunde und seiner Feinde ab, die alle noch ein letztes mal Stellung beziehen. Dabei wird eines klar: die allerstärksten Eindrücke hinterlässt nicht unbedingt das Raffinierteste, sondern vielmehr die einfachen Dinge, die uns bereits früh in unserem Leben geprägt haben.

Und hier gerät der Roman auch schon in den Dunstkreis von Marcel Proust, der über das Eintauchen eines Madeleines in Kräutertee und das Schlürfen der krümeligen Brühe das gesamte Universum seiner 'verlorenen Zeit' vor Augen geführt bekommt, worüber Pierre Arthens übrigens nur eine abfällige Bemerkung übrig hat aufgrund der 'Banalität' der Proustschen Geschmacksempfindung. Dagegen führt uns Muriel Barbery ein in ein wahres Geschmacksuniversum und führt uns die sensorischen Verführungskünste der einfachen, aber eben dadurch besonderen Dinge, wie Brot, Fleisch, Kräuter, Fisch, oder auch 'das Rohe' (nämlich Sushi) wortgewaltig vor Augen und Geschmacksknospen. Allerdings übertreibt sie es manchmal auch mit ihren Mammutsatz-Ungetümen und Adjektivgebirgen, so dass sich der wunderschön durchkomponierte, kurze Roman nicht unbedingt leicht von der Hand lesen lässt.

Am Ende wissen wir nicht, ob wir Pierre Arthens ob seines genussreichen Lebens beneiden oder aufgrund der damit verbundenen Opfer bedauern sollen. Denn auf Kosten des guten Geschmacks blieb so Einiges, insbesondere seine Kinder, auf der Strecke.
"...wenn ich es heute bedenke, denn was sind Kinder anderes als die monströsen Auswüchse unserer selbst, ein erbärmlicher Ersatz für unsere nicht verwirklichten Wünsche? Für jemanden wie mich, der im Leben schon Erfüllung gefunden hat, verdienen sie erst Interesse, wenn sie endlich weggehen und etwas anderes werden als Söhne und Töchter."(Seite 38)
Am Ende findet Pierre Arthens doch noch 'seinen einen Geschmack'. Aber zum Glück dauert es eben bis zum Ende des Romans und wir werden bei seiner Suche zu Zeugen und Mitwissern seiner unerhörten geschmacklichen Geheimnisse.

Fazit: Ein Buch für Liebhaber des 'guten Geschmacks', die sich nicht von Satzgebirgen abschrecken lassen und Freude an ausführlich geschilderten Geschmackserlebnissen haben.



Sonntag, 1. August 2010

Chemie, Schmandkuchen und tote Schnepfen - Alan Bradley: 'Flavia de Luce: Mord im Gurkenbeet'


Soviel schon einmal vorneweg: Wie schon so oft ärgere ich mich über die platte 'Titelübersetzung' des deutschen Verlages, was dem Buch -- Gottseidank -- erst einmal keinen Abbruch tut. Aber das deutsche Verlagswesen - und ihm voran immer wieder deutsche Filmverleihe und das deutsche Fernsehen - trauen es dem deutschen Leser bzw. Zuschauer nicht zu, einen vielleicht mehrdeutigen oder sich in Anspielungen ergehenden Titel zu verstehen. Nein. Für die Deutschen muss es anscheinend immer direkt und oberplatt sein. Und wenn es gar nicht anders geht, dann muss eben ein Bindestrichtitel herhalten, der einen Titel sinnreich untertitelt und den Inhalt des damit bezeichneten Werkes möglichst vollständig erklärt.

Das hat übrigens Tradition, denn bereits Grimmelshausens 1669 erschienener 'Simplicissimus' ist untertitelt mit
"Der Abentheuerliche SIMPLICISSIMUS Teutsch - Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines Seltzamen Vaganten genant Melchior Sternfels von Fuchshaim wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen was er darinn gesehen gelernet erfahren und außgestanden auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Überauß lustig und maenniglich nutzlich zu lesen."
Aber zurück zu unserem eigentlichen Untersuchungsgegenstand: Alan Bradleys 2009 erschienener und vielfach ausgezeichneter Roman 'Flavia de Luce: Mord im Gurkenbeet' oder aber besser im Original 'The Sweetness at the Bottom of the Pie'. Es handelt sich dabei um einen klassischen Kriminalroman, der im England der 1950er Jahre spielt, also keine Mobiltelefone, kein Internet und kein Fernsehen. Scheinbar ist es auch derzeit in Mode, halbwüchsige, aber nicht minder geniale Rotznasen zu Protagonisten in ausgefeilten Kriminal- und Abenteuerplots zu machen, wobei das Zielpublikum aber nicht unbedingt im selben Alter sein muss. Daher liegt der Vergleich mit Reiff Larsons 'Die Karte meiner Träume' (siehe biblionomicon Rezension: 'Kartenwahrheiten und andere Wahrheiten') oder Muriel Barberys 'Die Eleganz des Igels' (siehe biblionomicon Rezension: 'Eine unauffällige Perle') recht nahe.

Hauptperson des kurzweiligen Romans ist die 11-jährige Flavia de Luce, die zusammen mit ihren Schwestern Daphne (13 Jahre) und Ophelia (17 Jahre) im herrschaftlichen Anwesen der Familie de Luce lebt. Ihr Vater Colonel de Luce hat sich seit dem Tod der Mutter (das ist gut 10 Jahre her) in das Schneckenhaus seiner privaten Trauer zurückgezogen und findet Trost in seiner Leidenschaft, dem Briefmarkensammeln. Flavia ist für ihre 11 Jahre überaus frühreif, was ihre intellektuellen Fähigkeiten und Begabungen angeht. So verbringt sie die meiste Zeit im Obergeschoss des Herrenhauses, in dem ihr Ahnherr Tarquin de Luce ein voll ausgestattetes Chemielabor hat einrichten lassen. Der Kenner bemerkt natürlich sofort die Anspielung auf Sherlock Holmes und seine Leidenschaft für chemische Versuchsanordnungen.
"Das erste, was mir auffiel, war der Geruch. Es roch nach Kohl, Schaumgummikissen, Abwaschwasser und Tod. Unter dieser Mischung lag wie eine Grundierung der strenge Geruch des Desinfektionsmittels, mit dem die Böden gewischt wurden. Ich tippte auf Dimethyl-Benzyl-Ammoniumchlorid, denn ich nahm einen Hauch von Bittermandelaroma wahr, das unverkennbar roch wie Blausäure - das Gas, mit dem in Amerikas Gaskammern Mörder hingerichtet wurden." (Seite 282)
Eines morgens in aller Herrgottsfrühe entdeckt Flavia im Garten (im Gurkenbeet) einen sterbenden Mann, der ihr mit seinem letzten Atemzug den lateinischen Abschiedsgruß 'Vale!' entgegenhaucht.
'Was hatte mir der Fremde ins Gesicht geröchelt? Richtig: Vale! Hastig blätterte ich die Seiten um: vakant...Vakuum...Vakzination...da war es: Vale: Gehab dich wohl, Auf Wiedersehen, Adieu. Imperativ des lateinischen Verbs valere: wohl ergehen.' (Seite 46)
Das übrigens ist die einzige Stelle im ganzen Roman, in der das Gurkenbeet eine irgendwie 'tragende' Rolle spielt und den deutschen Titel versucht zu rechtfertigen. Aber Hand aufs Herz: Wer kauft schon ein Buch, nur weil es verspricht, dass eine Leiche in einem Gurkenbeet auftauchen wird...? Tags zuvor wurde Flavia Zeuge, wie sich dieser Mann mit ihrem Vater, dem Colonel gestritten hatte. Worüber, das ist nicht klar. Aber ebenfalls am Vortag fand die Haushälterin eine tote Schnepfe auf der Türschwelle. Schnepfen sind nun einmal nicht typisch für diese Jahreszeit, und schon gar nicht, wenn sie eine Briefmarke aufgespießt auf ihrem Schnabel tragen. Was also hat das Ganze zu bedeuten?

Die Polizei staunt auf alle Fälle nicht schlecht, als eine 11-jährige anruft, um einen Mord zu melden. Leider zeigen alle Verdachtsmomente auf Flavias Vater, Colonel de Luce, und er wird schließlich verhaftet. Flavia beginnt mit ihren Nachforschungen, die sie in die Jugend ihres Vaters zurück in seine Internatszeit in den 1920er Jahren führen, als er einem magischen Zirkel angehörte und seine Leidenschaft für Briefmarken entdeckte. Und Briefmarken sollen auch noch eine ganz besondere Rolle im weiteren Verlauf der überaus spannenden und kurzweilig geschriebenen Handlung spielen.

Seinen besonderen Charme zieht der Roman auch aus der Zeit, in der die Handlung spielt. England, kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Eine Zeit, die der 1938 geborene Autor Alan Bradley ungefähr im gleichen Alter wie Flavia erlebte. Eine gegenüber unserer heutigen Zeit um so vieles langsamere Zeit, dass man es sich als Jugendlicher heute kaum mehr vorstellen kann und als Erwachsener sofort in eine Art Nostalgie verfällt. Da kann man nicht einfach mal das Mobiltelefon aus der Tasche holen, um Kontakt aufzunehmen. Nein, man muss sogar in eine Bibliothek gehen -- die übrigens Samstags und Sonntags geschlossen ist -- um Informationen recherchieren zu können. Kein Internet, sondern nur das (gedruckte) Lexikon zuhause bleibt die einzig zuverlässige und kurzfristig erreichbare Informationsquelle.
"Scheibenkleister! schimpfte ich noch einmal. Dann würde ich meine Recherchen wohl auf ein anderes Mal verschieben müssen. Als ich dort in der Cow Lane vor verschlossener Tür stand, kam mir der Gedanke, dass die Büchereien im Himmel bestimmt rund um die Uhr offen hatten, und das sieben Tage die Woche!" (Seite 66)
Das Verhältnis der drei Schwestern untereinander ist eher stereotyp geschildert, d.h. ein beständiger Kriegszustand zwischen älterer (Ophelia) und jüngerer (Flavia) Schwester, mit einer Schwester in der Mitte, die sich als Dauerleser für nichts anderes als Literatur des 19. Jahrhunderts zu interessieren scheint. Aber Alan Bradley versteht es doch, seinen Figuren mit der Zeit etwas schärfere Ecken und Kanten mit auf den Weg zu geben, so dass man sie am Ende doch lieb gewinnen muss.
"Dass ein de Luce einem anderen sagt, dass er ihn liebt, ist so unwahrscheinlich, wie dass sich einer der Gipfel des Himalaya zur Seite neigt und seiner benachbarten Felsspitze etwas Nettes zuflüstert." (Seite 375)
Fazit: Ein äußerst kurzweiliger und liebevoll nostalgischer Kriminalroman aus einer ungewohnten, aber nicht minder interessanten Perspektive, der selbst mir als nicht unbedingt großem Krimiliebhaber viel Freude bereitet hat. Lesen!

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Mittwoch, 28. Juli 2010

Die absurd-komische Paradoxie des Krieges - Joseph Heller 'Catch 22'

Ein Paradoxon oder Paradox ist frei nach Wikipedia ein scheinbarer oder tatsächlich unauflösbarer, unerwarteter Widerspruch. Darunter fallen auch Phänomene und Fragen, die dem menschlichen Verstand bzw. der Intuition widersprechen, oder aber auch eine rhetorische Stilfigur, die in scheinbaren Widersprüchen eine tiefere Wahrheit veranschaulichen will. Joseph Hellers Anti-Kriegsroman aus den 1960er Jahren ist prall angefüllt mit solchen Paradoxien und die tiefe Wahrheit, die es uns vermitteln will, liegt in der absoluten Sinnlosigkeit des Krieges. Ok, eigentlich habe ich damit das Wichtigste dieser mehr als 500 engbedruckten Seiten bereits in zwei Sätzen zusammengefasst. Was könnte uns sonst noch an diesem Roman interessieren?

Joseph Heller wurde 1923 geboren und nahm aktiv als gerade einmal 20-Jähriger als Bombenschütze eines auf Korsika stationierten Geschwaders der US Army Airforce am 2. Weltkrieg teil. Nach dem Krieg arbeitete er ab 1950 als Englisch-Professor an der Pennsylvania State University und wechselte bereits 2 Jahre später in die Werbung. Seine Kriegserlebnisse verarbeitete er Anfang der 1960er Jahre in seinem berühmtesten Roman 'Catch 22', der 1970 sehr erfolgreich mit Alan Arkin, Orson Welles, Anthony Perkins, Martin Sheen und Jon Voight verfilmt wurde.

"Jedesmal, wenn Du einen Einsatz fliegst, bist Du nur Zentimeter vom Tode entfernt. Wieviel älter kannst Du in Deinem Alter noch werden?..."(Seite 46)

Natürlich fragt man sich zuerst, was der Name 'Catch 22' wohl bedeutet. Im Deutschen lässt sich diese Redewendung wohl am Besten mit 'Dilemma' oder 'Zwickmühle' übersetzen und charakterisiert eine ausweglose, paradoxe Situation, der man -- egal wie man sich entscheidet -- nicht entrinnen kann. Hauptfigur des Romans ist der Bombenschütze Captain John Yossarian, stationiert mit seinem B-25 Bomberverband auf der fiktiven Mittelmeerinsel Pianosa. Yossarian setzt alles daran, keine weiteren Einsätze mehr fliegen zu müssen. Obwohl er bereits über fünfzig Einsätze hinter sich hat, erhöht ein karrieresüchtiger Colonel jedesmal erneut die Anzahl der notwendigen Einsätze, bevor ein Besatzungsmitglied verdientermaßen nach Hause geschickt werden kann. Yossarian täuscht ein schwer diagnostizierbares Leberleiden vor und verbringt viel Zeit auf der Krankenstation des Verbandes.

Als er dem selbst ständig kränkelnden Feldarzt Doc Daneka -- der viel lieber zu Hause seine Privatpatienten versorgen würde -- mitteilt, dass er sich fluguntauglich schreiben lassen möchte, weil er nicht mehr zurechnungsfähig sei, macht er erstmals Bekanntschaft mit der paradoxen Vorschrift (Catch 22). Diese besagt, dass nur derjenige fluguntauglich geschrieben und nach Hause geschickt werden darf, wer geisteskrank ist und sich selbst fluguntauglich meldet. Wer aber selbst verlangt, nach Hause geschickt zu werden, kann nicht geisteskrank sein und wird entsprechend nicht nach Hause geschickt. Schließlich ist der Wunsch, sein Leben durch die Verweigerung des Kriegsdienstes zu retten, ein Beweis für das tadellose Funktionieren des Verstandes. Ein Dilemma also, aus dem man nicht entkommt. Natürlich gibt es diese Vorschrift überhaupt nicht, was aber überhaupt keinen Unterschied macht, solange alle daran glauben.

"Der Mensch ist Materie...Man werfe ihn aus dem Fenster, und er wird fallen. Man zünde ihn an, und er wird brennen. Man begrabe ihn, und er wird faulen wie anderer Abfall auch. Vom Leben verlassen, ist der Mensch Abfall."(Seite 532)

Das Buch ist in einzelne Kapitel benannt nach den mitwirkenden Personen unterteilt, die in diesen Kapiteln jeweils näher vorgestellt werden. So möchte Colonel Cathcart unbedingt im Newsweek Magazin erwähnt werden und ersinnt überaus abstruse Pläne, wie dies zu bewerkstelligen sei (möglichst schmucke Bombenteppichmuster, ein gemeinsames Gebet vor dem Einsatz...nur kann es dabei nicht angehen, dass (a) Manschaften und Offiziere zusammen beten und (b) dann auch noch zum selben Gott, oder vervielfältigte Musterbriefe, die verschickt werden, sobald ein Geschwadermitglied nicht mehr aus dem Einsatz zurückkehrt...). General Peckem und General Dreedle, die sich nicht ausstehen können, und vorwiegend elaborierte Memoranden schreiben. So ist es z.B. das erklärte Ziel, die Kriegshandlungen unbedingt der Verantwortung der Truppenbetreuung unterstellen zu lassen. Ganz besonders hat mir aber der schüchterne Major Major gefallen, der eigentlich Major (Dienstgrad) Major M. (ajor) Major heißt, seinen Dienstgrad aber nur der Unfähigkeit einer Lochkartensortiermaschine verdankt, und bei jeder Gelegenheit aus dem Fenster seines Bürozeltes verschwindet, um nur ja keine Entscheidungen treffen zu müssen.

"In Wirklichkeit war Major Major von einer IBM-Maschine befördert worden, die einen fast ebenso ausgeprägten Sinn für Humor besaß, wie sein Vater."(Seite 105)

Milo Minderbinder untersteht die Messe (Küche) und er nutzt seinen Posten, um ein international agierendes Schwarzmarktkartell unter Nutzung der von der Airforce gebotenen Infrastruktur aufzubauen, wobei er auch nicht davor zurückschreckt, mit dem Feind Geschäfte zu machen. Dies geht sogar so weit, dass er das eigene Geschwader (von eigenen Maschinen) bombadieren lässt, nur weil es ein gutes Geschäft war. Orr aber ist anscheinend der verückteste von allen. Nach außen ein harmloser, naiver Kerl, doch gelingt es ihm am Ende dem ganzen Kriegsirrsinn ein Schnippchen zu schlagen.

"Orr war imstande, sich mit der Sturheit und der Lautlosigkeit eines Klotzes in eine unbedeutende Arbeit zu vertiefen, ohne je ungeduldig zu werden oder das Interesse zu verlieren. Und dazu besaß er eine geradezu unheimlich anmutende Kenntnis der Natur, fürchtete sich weder vor Hunden noch Katzen, vor Käfern oder Motten und auch nicht vor Gerichten wie Kutteln oder Schwarzsauer."(Seite 380)

All diese liebevoll geschilderten, abstrusen und seltsam verrückten Gestalten sollen vor allen Dingen eines: die Absurdität des Krieges und die absolute Unfähigkeit des Militärs aufzeigen. Und das gelingt Heller dabei wirklich recht eindrucksvoll. Dabei ist der Roman prall gefüllt mit kleinen Anekdoten und eindringlich geschilderten, teils beklemmenden Momentaufnahmen und Bildern. Zum Teil versteht das Buch seinen Leser zu fesseln, an anderen Stellen jedoch geht Heller auch schon mal einen Schritt zu weit oder verliert sich im Abstrusen. Dies macht die Geschichte vor allen Dingen nicht leicht zu lesen und ich hatte zwischendurch des öfteren gute Lust, das Buch zur Seite zu legen. Aber letztendlich forderte es mich doch immer wieder von neuem heraus und auch wenn es mich fast einen ganzen Monat gekostet hat, so hat es sich am Ende doch gelohnt.

Fazit: Abstruser Anti-Kriegsroman mit skurilen Protagonisten, einigen Längen und Tiefgang. Ein Stück Weltliteratur, aber nichts für jedermanns Geschmack.

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Dienstag, 29. Juni 2010

Das hat die gute Jane nicht verdient - Jasper Fforde 'The Eyre Affair'

Man stelle sich vor, eine Welt, in der Literatur nicht nur bierernst genommen wird, sondern in der sich die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit vermischen. Das Ganze garniert mit einem Happen Zeitreisefolklore und alternativer Realität. Dann nehme man einen (oder mehrere) englische Klassiker der Literatur des 19. Jahrhunderts, rühre das Ganze kräftig herum und frage sich, was wohl Douglas Adams aus so einer Gemengelage hätte machen können...

Der walisische Autor Jasper Fforde ist ja eigentlich Kameramann (Kamera-Assistent um genau zu sein) und laut Wikipedia gar kein so unbekannter. Dort steht nämlich zu lesen, er habe z.B. in 'Goldeneye' oder 'The Saint' hinter der Kamera gestanden. Aber, er hat auch eine Figur und mit ihr verbunden eine alternative Welt erfunden, die es mittlerweile sogar auf mehrere Fortsetzungsbände gebracht hat: Thursday Next, die Literatur-Agentin. Nein, nicht wie wir das jetzt verstehen würden. Denn in Ffordes Welt, ist Literatur eine ernst zu nehmende Sache und Thursday Next ist Officer der paramilitärischen Special Ops Network Organisation. Eine ihrer vielen Unterabteilungen beschäftigt sich mit 'literarischen Verbrechen', so z.B. mit dem Aufspüren von illegal gedruckten oder gefälschten literarischen Werken. Laut Verlagstext handelt es sich bei Miss Next um eine krude Mischung aus Bridget Jones und Dirty Harry. Den etwas feinsinnigeren unter uns sträubt sich jetzt mit Sicherheit bereits das ein oder andere Nackenhaar...

Doch damit nicht genug. Jasper Fforde beschreibt uns eine Alternativwelt, in der England nicht das uns bekannte vereinigte Königreich darstellt, sondern eine geteilte Republik mit einem unabhängigen Wales ist, die sich seit mehr als einem Jahrhundert mit dem zaristischen Russland im noch nicht entschiedenen Krimkrieg befindet. Um es noch ein wenig weiter auf die Spitze zu treiben, sind Zeitreisen anscheinend nichts wirklich besonderes in dieser Welt, während auf der anderen Seite Überlandreisen mit der guten alten Eisenbahn oder in Luftschiffen unternommen werden, und dann auch noch Werwölfe, Vampire und Geister ein durch und durch reales Dasein fristen...

Doch es passieren dann doch wirklich 'unerhörte Dinge'. Alles fängt damit an, dass das Original Dickens-Manuskript des Romans 'Martin Chuzzlewit' gestohlen wird und dann noch tatsächlich eine anscheinend aus diesem Roman stammende Figur tot auf dem Seziertisch eines Polizeipathologen liegt und folglich auch nicht mehr weiter im Roman auftaucht, sondern verschwunden bleibt. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sind auf einmal durchlässig geworden, dank einer genialen Erfindung von Thursdays Onkel Mycroft (ja, genau...so hieß übrigens auch der hochintelligente Bruder von Sherlock Holmes), einem verschrobenen Erfinder, Mathematiker und Physiker. Hades Acheron (was für ein dämlicher Name), ein unglaublich durchtriebener Schurke, ausgestattet mit übermenschlichen Kräften, erpresst das Land mit der Drohung, ein Nationalheiligtum Englands unwiderruflich zu zerstören: Er bringt Mycroft in seine Gewalt und entführt Jane Eyre mitten aus Charlotte Brontes gleichnamiger Geschichte (um genau zu sein irgendwo auf Seite 120) und da das Buch in Janes Ich-Erzählperspektive geschrieben ist, sind plötzlich alle nachfolgenden Seiten leer....

Klingt alles ziemlich aberwitzig? Ist es auch! Aber irgendwie konnte ich mit dieser Welt nicht wirklich warm werden. Letztendlich wurde es dann selbst mir zu 'seltsam'. Zeitreisen gepaart mit Vampiren, Shakespeare und Bronte ... das ist schon starker Tobak. Dabei ist die Grundidee, sich einen Klassiker herauszugreifen und etwas aus der Geschichte zu 'remixen' gar nicht so schlecht. Der Erfolg solcher literarischer Remixe, wie z.B. der Jane Austen-Verschnitt 'Stolz und Vorurteil und Zombies' scheint dem ganzen ja recht zu geben. Mögen muss man es dabei aber noch lange nicht.

Die Figuren des Romans waren mir allesamt zu plakativ und es fehlen die Erklärungen. Woher stammen die 'Superkräfte' des Ultrabösewichts? Warum ist er so geworden, wie er ist? Er war doch vorher anscheinend ein mehr oder wenig 'harmloser' Literaturdozent. Und überhaupt, warum ist Literatur in dieser Welt so ungeheuer wichtig? Vielleicht bieten ja die übrigen Thursday Next Bände hier weitere Aufschlüsse, aber ich habe erst einmal genug von dieser seltsamen Welt. Die einzigen guten Stellen des Romans waren die, in denen Fforde kräftig aus Charlotte Brontes Werk zitiert und mit der Geschichte spielt. Doch wahrscheinlich haben mir diese Stellen doch nur gefallen, weil ich 'Jane Eyre' so gerne habe (sie auch meine Rezension 'Aschenbrödel bekommt etwas lädierten Prinzen').

Fazit: Da versucht einer an Douglas Adams kruden Sinn für exzentrische Geschichten anzuknüpfen, hat eigentlich eine ganz gute Idee, schießt aber meiner Meinung nach etwas über das Ziel hinaus. Weniger wäre wohl eher mehr gewesen.

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