Sonntag, 18. Oktober 2009

Amerikanische Kurzgeschichten - von Irving bis Crane

Über die wunderschönen Taschenbändchen der Sammlung Dieterich hatte ich hier im Biblionomicon ja bereits schon einmal geschrieben, als ich einen Band englischer Kurzgeschichten besprochen hatte. Ein glücklicher Zufall (genauer genommen eine Ebay-Auktion) hatte mir nun den vorliegenden Band US-amerikanischer Kurzgeschichten in die Hände gespielt, die ich in den vergangenen Wochen teils mit großer Freude gelesen habe.

Erschienen in der Dieterichschen Verlagsbuchhandlung zu Leipzig ist dieses Bändchen mit dem Titel "Amerikanische Kurzgeschichten - von Irving bis Crane" im Jahr 1957, also vor über 50 Jahren. Auch wenn das Papier schon ein wenig vergilbt ist, war dieser schön ausgestattete Leinenband mit Goldschnitt auf dem Buchdeckel, Lesebändchen und Farbkopfschnitt doch hervorragend erhalten - sieht man einmal von dem fehlenden Schutzumschlag ab. Er umfasst 23 Kurzgeschichten, angefangen von Washington Irving (1783-1859), also den Anfängen der amerikanischen Literatur bis hin zu Stephen Crane (1871-1900), dem Wegbereiter Hemingways und der modernen Short Story.

Die 23 Kurzgeschichten stehen natürlich nicht ohne Einleitung, in der Martin Schulze die Geschichte der amerikanischen Literatur im Allgemeinen und der Kurzgeschichte als spezieller US-amerikanischer Erzählform im Besonderen abhandelt. Interessante Beobachtung am Rande für mich war, dass es einige Zeit dauerte - defacto bis in die 1820er Jahre, fast 50 Jahre nach der US-amerikanischen Revolution und den Freiheitskriegen - bis mit Vertretern wie Washington Irving überhaupt von einer amerikanischen Literatur die Rede sein konnte. Die Ursache hierfür liegt nicht nur in den wilden Pionierjahren der Republik begründet. VIelmehr setzten US-amerikanische Verleger zunächst auf die Publikation bereits etablierter englischer Literatur. Waren doch damals Urheberrecht und Tantiemen für die Autoren eher noch Fremdworte. Verkaufte sich ein Werk im alten Europa gut, dann lag der Schluss nahe, dass dies auch in den USA gelingen würde. Also wurde es schlichtweg in entsprechender Auflage kopiert. Das verlegerische Risiko war wesentlich geringer, als einen unbekannten US-amerikanischen Autor zu publizieren, bei dem nicht klar war, ob er gekauft werden würde.
"Nach der Vorstellung vieler Europäer hätten die Amerikaner, deren Leben unter der Devise "Zeit ist Geld" steht, keine Zeit, "dicke Bücher" zu lesen. Ja, es gibt sogar in Amerika Stimmen, die diese Ansicht teilen..."
Die Kurzgeschichte hat ihren Ursprung im Publikationsmedium der Zeitung. Die dort abgedruckte Literatur bedeutete geringes verlegerisches Risiko und der Autor musste schnell "zur Sache kommen", da ihm ja nur wenig Platz blieb. So starteten die meisten amerikanischen Autoren ihren Werdegang über die Kurzgeschichte. Natürlich legt die Kurzform auch den novellenartigen Charakter der Erzählungen rund um ein "unerhörtes Ereignis" nahe. Stark von der Romantik beeinflusst waren denn auch die ersten großen Erzähler, wie z.B. Washington Irving -- dessen Rip van Winkle Erzählung um den holländischen Einwanderer, der eine ganze Generation verschläft, den Auftakt macht.

Aber auch Edgar Allan Poe, der erste Höhepunkt amerikanischer Erzählkunst, mit seinen stark psychologisierenden Schauergeschichten. Das 'verräterische Herz', das bereits schon einmal hier im Biblionomicon besprochen wurde, ist wirklich ein Meisterwerk, das in diersem Band nicht fehlen darf. Daneben fallen in diese Kategorie auch die Kurzgeschichten von William Austin, Nathaniel Hawthorne, Herman Melville, Fitz-James O'Brien, aber auch Edward Everett Hale, dessen "Mann ohne Vaterland" von einem verurteilten Soldaten berichtet, der aufgrund einer unachtsamen Äußerung vor Gericht ("Er habe kein Vaterland") zu einem permanenten Leben auf hoher See verurteilt wird.

Danach ändert sich der Tonus der Kurzgeschichten. Sie emanzipieren sich vom europäischen Vorbild und eine Menge Lokalkolorit, nicht zuletzt in der Sprache kommt zum Tragen. Stehen am Anfang noch skurile und humoristische Skizzen im Vordergrund, werden die Erzählungen zusehends erwachsen. Angefangen mit John S. Robbs "lebend verschluckter Auster" und Artemus Wards "Zitterer", treffen wir auf den wunderbaren Mark Twain und dessen "berühmten Springfrosch von Calaveras", den ich noch aus meinen Schülertagen kenne. Gefolgt von Bret Harte, George Washington Cable, Thomas Bailey Aldrich gelangen wir zu Joel Chandler Harris, der sich in seiner Erzählung "Meister Lampe macht sich Bewegung" an der Mundart der US-amerikanischen Sklaven versucht.
"Eine der wichtigsten Forderungen dieses Meisters der Erzählkunst (gemeint ist Edgar Allan Poe) betraf die Kürze. Der Leser muss in der Lage sein, das Gebotene "auf einmal herunterzulesen". Nur für diese kurze Zeitspanne wird es dem Autor möglich sein, so folgert Poe, die ausschließliche Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln."
Dann Ambrose Bierce, den ich ebenfalls ganz besonders liebe. Natürlich finden wir hier seine große Erzählung "Zwischenfall auf der Brücke über den Eulenfluss", die ich ebenfalls schon als Schüler gelesen habe und die mir die Faszination an diesem Schriftsteller eröffnet hat, der in den Wirren des mexikanischen Revolutionskrieges verschollen ging. Der Band klingt aus mit Erzählungen von O.Henry, Jack London, Henry James und Stephen Crane. MIt ihm ist das Genre der Kurzgeschichte wirklich erwachsen geworden und wartet auf Ernest Hemingway, der sie stilistisch zur Perfektion führen sollte.
"Alles ist ja vielleicht ein bißchen übertrieben, aber ich weiß schon, was Sie meinen", erwiederte ich, "Sie haben die große amerikanische Krankheit und haben sie schwer - es ist die krankhafte, maßlose Begierde nach Form und Farbe, nach dem Pittoresken und dem Romantischen um jeden Preis. Ich möchte nur wissen, ob wir damit zur Welt kommen...."
Das Schöne an diesen Bänden mit Kurzgeschichten diverser Autoren ist, dass sie jedesmal Lust auf 'Mehr' machen. So werde ich mir den ein oder anderen Autor in Zukunft auch noch etwas intensiver zu Gemüte führen. Den vorliegenden Band selbst gibt es nur noch im Antiquariat bzw. eben über Ebay.

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