Mittwoch, 31. Oktober 2007

Gerichtsthriller im alten Rom - Robert Harris 'IMPERIUM'

"Einen Idioten erkennt man sofort. Es ist der Mann, der immer genau weiß, wie eine Wahl ausgeht. Aber eine Wahl ist ein lebendiges Wesen -- man könnte fast sagen, sie ist das vitalste Lebewesen überhaupt: mit Abertausenden von Gehirnen, Gliedmaßen und Augen, mit Abertausenden von Gedanken und Sehnsüchten; es windet und wendet sich und schlägt unvorhersehbare Richtungen ein, und das manchmal nur spaßeshalber, um den Schlaubergern zu zeigen, wie falsch sie liegen...."


Zwar beziehen sich diese Zeilen aus Robert Harris' Roman 'Imperium' auf die Konsulatswahlen des Jahres 63. v. Chr., aber ich musste unfreiwillig sofort an die letzten Bundestagswahlen (im Jahr 2005) und den etwas "uneinsichtigen" Ex-Bundeskanzler denken....
Aber es geht heute um Cicero. Marcus Tullius Cicero - ein Homo Novus - der sich anschickt, das höchste Amt der römischen Republik zu erreichen, das Konsulat. Cicero war seiner Abstammung nach ein einfacher Ritter (Eques), zwar eigentlich der zweithöchste Stand in der römischen Republik, aber eben kein 'richtiger' Aristokrat von altem Adel. Alles, was er erreicht hat, erreichte er aus eigener Kraft und Antrieb -- eben ein typischer Homo Novus (und als solcher auch Vorbild für den späteren idealtypischen Renaissance-Menschen). Cicero - der Name leitet sich wahrscheinlich vom lateinischen 'cicer' ( = Kichererbse) her -- ist vielen von uns aus dem Lateinunterricht bekannt. Auch ich habe weite Passagen der Rede gegen Verres, der Verschwörung Catilinas (Coniuratio Catilinae) oder aus seiner Redekunst (De Oratore) lesen und übersetzen müssen.

Aber zurück zu Robert Harris Roman. Die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive von Tiro, Ciceros Privatsekrätar, der am Ende seines fast 100 Jahre zählenden Lebens eine Biographie Ciceros schreibt (die zwar historisch von Plutarch erwähnt wurde, aber bei den Wirren während des Unterganges des römischen Reiches wie viele andere Schriften auch verloren ging). Wir verfolgen Ciceros politische Karriere in den Jahren 70 v. Chr - 63. v. Chr. Da ihm zum Eintritt in den römischen Senat das notwendige Geld fehlte (Voraussetzung dazu waren wohl eine Million Sesterzen Privatvermögen), heiratet Cicero die vermögende Patriziertochter Terentia. Cicero ist Anwalt, ein Beruf in dem ihm sein Rednertalent sehr von Vorteil ist. Seine Klienten verteidigt er -- ohne tatsächliche Schuld oder Unschuld abzuwägen -- stets mit größtem Eifer - und Erfolg. Eine moralische Eigenschaft, die ihm vom großen Historiker Theodor Mommsen (einem Cäsar-Bewunderer erster Güte) sehr übel genommen wurde.

Cicero startet seine Ämterlaufbahn (Cursus Honorum) als Quästor in Sizilien, wo er bedingt durch seine Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit bei den Einheimischen einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. So kommt es auch, dass ihn eines morgens in Rom der Sizilianer Sthenius aufsucht und von ihm Beistand als Anklagevertreter gegen den korrupten und verbrecherischen Statthalter Siziliens Gaius Verres zu erbitten. Zuerst wenig begeistert erkennt Cicero aufgrund der erdrückenden Beweislast gegen Verres schnell, dass ein Sieg in diesem Prozess seiner politischen Laufbahn äußerst vorteilhaft sein könnte. Also erhebt er Anklage und erhält 110 Tage Zeit, um in Sizilien alle Beweise gegen Verres zu sichern und um den Prozess vorzubereiten. Sein Gegner vor Gericht, der Vertreter der Verteidigung von Gaius Verres ist niemand anderes als der Patrizier Quintus Hortensius Hortalus, der als größter Redner Roms gilt. Es wird ihm nicht gerade leicht gemacht, da die aristokratischen Senatoren Verres als einen der Ihren betrachten. Aber sein exzellentes dramaturgisches Geschick und die erdrückende Beweislast gegen Verres verhelfen Cicero zu einem fulminanten Sieg. Seiner Kandidatur als Ädil und anschließend als Prätor scheint nichts mehr im Wege zu stehen.

Wären da nicht Pompeius und Crassus. Gnaeus Pompeius Magnus, als siegreicher Feldherr aus den spanischen Provinzen zurückgekehrt feiert seinen Triumphzug durch Rom, während sein Rivale, der unglaublich reiche Marcus Licinius Crassus, für seinen Sieg im Sklavenaufstand des Spartacus (die Via Appia mit 6000 ans Kreuz geschlagenen Sklaven zu 'verschönern' war übrigens Crassus' Idee), die zweite Geige spielen muss. Cicero gerät in das politische Intrigenspiel der beiden Rivalen, schlägt sich notgedrungen auf Pompeius Seite und wird von beiden zu ihren Zwecken mißbraucht. Als Cicero schließlich seine Kandidatur als Konsul beschließt, der Krönung der politischen Ämterlaufbahn in Rom, scheint ein Sieg aussichtslos, da er dahinterkommt, dass das Amt durch zwei von Crassus gekauften Marionetten besetzt werden soll. Crassus unermesslicher Reichtum sichert ihm die Stimmen der Konsulen, allen zehn Volkstribunen, mehreren Prätoren, Ädilen und Senatoren. Zudem schickt er sich an, die Stimmen der wahlberechtigten römischen Bürger zu kaufen. Eine fast aussichtslose Situation für Cicero....

Da sich Robert Harris Roman weitgehend an die historischen Fakten hält, weiss man aber auch jetzt schon, dass Cicero in 'seinem Jahr' (suo anno, d.h. zum frühesten dafür möglichen Zeitpunkt mit 42 Jahren) 63 v. Chr. siegreich aus den Konsulatswahlen hervorgehen wird. Aber der Weg dorthin wird äußerst spannend und abwechslungsreich geschildert. Robert Harris lässt in seinem Roman das alte Rom in den letzten Jahren der römischen Republik wieder auferstehen. Wir lernen Persönlichkeiten wie Cicero, Verres, Catilina, Cäsar, Pompeius und Crassus aus der Nähe kennen. Dabei kommt etwa Gaius Iulius Cäsar, der von Mommsen noch als strahlender Held verklärt wird, ziemlich schlecht weg. Vom Ehrgeiz zerfressen, immer in finanziellen Schwierigkeiten, hochintelligent, 'notgeil' und stets auf seinen Vorteil bedacht - insgesamt kein allzu liebenswerter Zeitgenosse. Harris ist selbst studierter Historiker und hat den Roman gewissenhaft recherchiert -- auch wenn mir zwei kleinere Fehler bereits aufgefallen sind. So liegen in einer Anfangsszene 'Bücher' aufgeschlagen auf einem Schreibtisch (Bücher wie wir sie heute kennen, also sogenannte römische Codices kommen erst ab dem ersten nachchristlichen Jahrhundert mit Ausbreitung des Christentums in Mode. Zu Ciceros Zeiten müsste es sich vielmehr um Schriftrollen handeln, die dann eben aufgerollt werden.) Zudem spricht der Erzähler Tiro vom Monat "Juli" in einer Zeit, als dieser noch als fünfter Monat des römischen Jahres den Namen "Quintilis" besaß und erst im Jahre 44 v. Chr. zu Ehren Cäsars in "Juli" umbenannt wurde. Aber das sind nur Kleinigkeiten am Rande, die dem Lesegenuss absolut keinen Abbruch tun.

Das Buch selbst ist in einem einfachen, aber fesselnden Stil geschrieben (zumindest in der deutschen Übersetzung) und entwickelt die historische Handlung im Stile eines packenden Gerichtsthrillers á la John Grisham. Schade nur, dass das Buch mit Ciceros Erreichen des Konsulats schon endet. Ein Jahr danach nämlich gelingt es Cicero, den Umsturzversuch seines Erzfeindes Lucius Sergius Catilina -- die Catilinarische Verschwörung -- aufzudecken und zu vereiteln ("quo usque tandem Catilina, abutere patienta nostra...."). Später wird Cicero aufgrund seiner Abrechnung mit den Catilinariern sogar ins Exil geschickt, von Cäsar aber wieder zurückgeholt und bleibt -- auch während Cäsars Diktatur -- ein brennender Verfechter der Ideale der römischen Republik. An Cäsars Ermordung soll er nicht beteiligt gewesen sein. Doch macht er sich die Mitglieder des zweiten Triumvirat (Marcus Antonius, Octavian und Gaius Lepidus) zum Feind, allen voran Marcus Antonius, den er in seinen als "Philippika" bekannt gewordenen Reden geschmäht und verunglimpft hat. In den folgenden Proskriptionen steht Ciceros Name ganz oben auf den Todeslisten und schließlich fällt er diesen im Jahre 43 v. Chr. zum Opfer.

Als historischer Roman aus der Zeit der römischen Antike konkurriert Harris mit großen Autoren wie Ranke-Graves ('Ich Clausius, Kaiser und Gott'...absolut fabelhaft, unbedingt lesen(!), Rezension folgt), Bulwer-Lytton ('Die letzten Tage von Pompeji'), Wallace ('Ben Hur') oder aber auch Thornton Wilder. Letzterer hat in seinem Briefroman 'Die Iden des Märzes' die letzten Monate vor dem Tyrannenmord an Cäsar in eindrucksvoller Weise mit einem psychologischen Meisterwerk zum Leben erweckt (unbedingt lesenswert!). An Tiefe können es Harris' Figuren leider nicht mit denen von Ranke Graves oder Wilder aufnehmen, deren Zerissenheit und Vielfältigkeit beispielhaft geschildert werden. Dennoch wirken Cicero, Cäsar oder der 'schleimige' Crassus recht echt. Schade, dass uns -- wenn ich an meinen Lateinunterricht zurückdenke -- unsere Lehrer nicht die mitunter schmerzhaften Übersetzungsstunden mit derart spannenden Geschichten versüßt haben...

Fazit: Ein packender Gerichtsthriller in historischem Gewand! Manchmal wünschte man sich etwas mehr Tiefgang und vor allen Dingen nicht ein so rasches Ende. Aber Robert Harris zweiter Ausflug in die römische Geschichte (nach dem Erfolg von 'Pompeji') verspricht ebenfalls kurzweiligen Lesegenuss -- und wieder einmal Lust auf mehr. Vielleicht lässt uns Robert Harris ja nicht im Stich und wir dürfen uns auf eine Fortsetzung des spannenden politischen Lebens Ciceros freuen. Ich würde es mir wünschen.
Links:


  • Die römische Antike bei booklooker (antiquarische Bücher, u.a. mit E. Bulwer-Lytton, L. Wallace, Horaz, Sallust, Catull, u.v.m.)

Donnerstag, 25. Oktober 2007

Ein bibliophiler Höllentrip - Matthew Pearls 'Dante Club'

Die Hölle -- so sagt eine Redensart -- das sind wir selbst. Vielmehr noch finden wir sie oft in uns selbst oder wir bereiten sie uns und anderen. Unsere Vorstellung von der Hölle ist geprägt von Dante Alighieris berühmter Schilderung aus dem ersten Teil seiner Göttlichen Kommödie, der ' Divina Commedia', diesem epischen Meisterwerk der italienischen Renaissance, das auch im Zentrum des Romans 'Der Dante Club' von Matthew Pearl steht.

Boston, 1865, der US-amerikanische Bürgerkrieg ist seit einem knappen Jahr zu Ende. Präsident Lincoln wurde von dem verwirrten Schauspieler John Wilkes Booth mit den Worten "Tod den Tyrannen" im Theater hinterrücks ermordet. Die immer noch junge USA ist gerade dabei, ihre kulturelle Identität zu finden. Die Kulturschaffenden, das sind in erster Linie die Dichter und Literaten. Allen voran, Henry Wadsworth Longfellow, ehemaliger Harvard-Literaturprofessor, der es sich zur Aufgabe erkoren hat, das größte literarische Werk der Menschheit -- Dante Alighieris 'Göttliche Kommödie' -- möglichst werkgetreu ins Englische zu übersetzen und damit die erste amerikanische Version der 'Commedia' zu schaffen. Bei dieser übersetzerischen Großtat unterstützen ihn die beiden Professoren und Dichter James Russel Lowell und Oliver Wendel Holmes, ihr Verleger J.T. Fields und der Historiker George Washington Greene. Um ihr gemeinsames Unternehmen in die Tat umzusetzen, gründeten die illustren Herren den Dante Club, der sich zu wöchentlichen Sitzungen trifft, bei denen die Übersetzungsvorschläge Longfellows kritisch diskutiert werden. So weit bewegen wir uns auf dem Boden der geschichtlichen Tatsachen.

Eine abscheuliche Mordserie an bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erschüttert Boston. Insbesondere die Grausamkeit der Todesumstände und die damit verbundenen Leiden der einzelnen Opfer geben der zur damaligen Zeit recht unorganisierten Polizei Rätsel auf. Zudem kämpft die Polizei ebenso um die Akzeptanz der ersten farbigen Polizeibeamten -- sowohl in den eigenen Reihen als auch in der Bevölkerung. Doch den Professoren des Dante Clubs wird schnell klar, dass sich der Täter anscheinend Dantes Werk als Handlungsanleitung erkoren hat. Doch -- und das macht die Sache rätselhaft -- in den USA existieren bislang noch so gut wie keine (damals nur britischen) Übersetzungen von Dantes Schriften. Es muss sich also aller Wahrscheinlichkeit nach entweder um einen Sprachexperten oder eben um einen Muttersprachler handeln, der nicht nur der alten italienischen Sprache Dantes mächtig ist, sondern zudem auch noch ein Experte des Werkes selbst ist -- so wie gerade auch die Mitglieder des Dante Clubs. Die Professoren sind nun erst einmal alles andere als die geborenen Detektive -- und das vermag Matthew Pearl sehr gut darzustellen. Alle kämpfen sie mit ihren privaten Problemen: Longfellow mit dem tragischen Verlust eines geliebten Kindes (und seiner Frau), Professor Lowell mit dem Harvard-Aufsichtsgremium, das seine Dante-Vorlesungen als papistische Propaganda verunglimpft und verbieten möchte, und Professor Holmes mit großen Selbstzweifeln und einem gebrochenem Verhältnis zu seinem als Kriegsheld heimgekehrten Sohn, der zu allem Ärger auch noch Jura studiert.

"Auf halbem Weg des Menschenlebens fand ich mich in einen finstern Wald verschlagen, Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt" -- so heisst es am Anfang von Dantes Kommödie. In dieser Situation sehen sich die Protagonisten des Buches ebenso mit dem eigenen Fehlen konfrontiert. Die Morde sind tatsächlich schrecklich und den Visionen Dantes nachempfunden. Dante denkt sich in seinem 'Inferno' für jede Sünde die passende Strafe, den sogenannten 'Contrapasso' (Wiedervergeltung) aus. Dieser Contrapasso besteht darin, dass die Tat des Sünders in gewisser Weise gegen ihn selbst umgekehrt wird. Die Simonisten etwa -- also Priester, die sich haben bestechen lassen oder die Kirchengelder für private Zwecke veruntreut haben -- trifft der Dichter kopfüber im Boden eingegraben und wie lebendige Kerzen an den Füßen brennend. Ein Schicksal, das auch eines der Opfer im Buch teilen wird.

Wir werden Zeuge der professoralen Schnitzeljagd nach dem dantesquen Mörder, aber der Mörder scheint unserem Dichterkreis immer einen Schritt voraus zu sein. Nicolas Rey, Bostons erster farbiger Polizist, ist ebenfalls hinter dem Täter her und gerät schließlich auf die Spur unserer Professoren. Er wird zum Verbündeten, aber die Dante-Jünger geraten von einer Sackgasse in die nächste. Matthew Pearl schildert das Leben in der winterlichen Metropole des 19. Jahrhunderts in sehr eindringlicher Weise. Die aus dem Bürgerkrieg heimgekehrten Veteranen können sich ebenso wenig leicht wieder in ihr bisheriges Leben integrieren, wie dies den Vietnam-Heimkehrern oder den Veteranen des Irak-Krieges heute gelingen mag. Die Schrecken des Krieges, sie waren damals wie heute im Stande, einem Menschen für immer um den Verstand zu bringen. Und ebenso gibt es und gab es in Amerika Rassismus. Die eingewanderten Iren hetzen gegen die Italiener und die Farbigen aus dem Süden, weil sie ihnen die wenigen Jobs wegnehmen. Auch waren nicht alle Nordstaatler tatsächlich auch Gegner der Sklaverei. Ebenso gibt es Spannungen zwischen den (meist irischen) Katholiken und den vorherrschenden protestantischen Unitaristen. All diese Gegensätze vermag der ebenfalls in Harvard studierte Autor treffend und lebhaft in Szene zu setzen.

Ich habe das Buch in der englischen Originalausgabe gelesen und kann daher erst einmal nichts zur sprachlichen Qualität der deutschen Übersetzung sagen. Im Original wechselt Pearl zwischen dem damaligen Slang der einfachen Leute und Kriminellen und der professoralen Hochsprache. Etwas gewöhnungsbedürftig und wirklich gar nicht so einfach zu verstehen. Im Gegensatz zu den letzten beiden englischsprachigen Büchern, die ich gelesen und hier besprochen habe ('A Short History of Everything' und 'Jonathan Strange & Mr. Norrel') ist der Dante Club sprachlich anspruchsvoller. Die Auflösung der Mordfälle werde ich an dieser Stelle nicht liefern, um dem zukünftigen Lesern die Spannung nicht zu verderben. Im Gegensatz zu den akuellen Bestseller-Thrillern von Dan Brown oder Michael Crichton herrscht hier nicht atemlose, hektische Spannung und eine beständige Abfolge von Cliffhangern, sondern es wird die Psychologie der Beteiligten ausgiebig ausgelotet. Für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts erschien diese Zeit der Industrialisierung und der frühen Moderne als ebenso hektisch und atemlos wie uns die heutige. Aber -- und das ist gut so -- Matthew Pearl nimmt sich Zeit für seine Figuren, die man beim Lesen schnell lieb gewinnt und die auch für manche Überraschung gut sind.

Andererseits macht das Buch Appetit auf deutlich mehr Dante. Sei es, diesen einmal wieder zu lesen bzw. auch ihn das erste mal richtig kennen zu lernen. Als Jugendlicher hat mich vor allem der erste Teil von Dantes Kommödie, das Inferno, begeistert. Ein architektonischer Entwurf einer jenseitigen Welt, in der man seinen Sünden entspechend bestraft wird -- und das für alle Ewigkeit. Dante und sein Führer Vergil durchmessen sämtliche Höllenkreise (die Hölle ist angelegt im Stil eines Trichters aus neun konzentrischen Kreisen, je tiefer man hineingerät, desto härtere Strafen erwarten die Sünder) und Dante setzt seinen Weg fort, (im 2. und dritten Teil) über den Läuterungsberg (Purgatorio) schließlich hinauf in himmlische Sphären (Paradiso). Dabei bekommt der Leser viele Zeitgenossen Dantes zu Gesicht, denen er einen wohlbedachten Platz in seiner Nachweltarchitektur hat zukommen lassen. Da der Leser von heute aber weder mit den Lebensumständen des 14. Jahrhunderts noch mit Dantes Zeitgenossen vertraut sein wird, ist jede Ausgabe der Kommödie üblicherweise mit tonnenschweren Fußnoten und Erklärungen versehen -- was dem Lesegenuss aber keinen Abbruch tut. Viele Zeitgenossen Dantes sahen in der Kommödie kein fiktives Werk, sondern waren von der Realität von Dantes Reise durchaus überzeugt. Aber Dantes Reise ist auch eine Reise in die Abgründe des eigenen Ichs. Und das ist es, was uns dieses Werk auch heute noch so nahebringt.
Als Jugendlicher habe ich übrigens nicht mit Dantes Original angefangen, sondern bin über eine Science Fiction Geschichte überhaupt erst zum Thema gekommen. Larry Nivens und Jerry Pournelles 'Das zweite Inferno' (leider nicht mehr im Handel erhältlich...), eine an die Realität der 70er Jahre angepasste Version von Dantes Inferno. Sicher mehr oder weniger Trivialliteratur, aber doch ein erster Einblick in die Welt Dantes garniert mit Aktualisierungen für unsere heutige Zeit.

(Nachtrag: ebenfalls als von Dante inspiriertes Werk gibt es hier im biblionomicon noch eine Rezension zu Andrew Davidsons 'Gargoyle')

Fazit: Der Dante Club ist wieder mal ein Professorenroman par excelence, diesmal in Gestalt eines Thrillers, der sich nicht mythologischen oder historischen Motiven annimmt, sondern das Werk Dantes im Spiegel des 19. Jahrhunderts Revue passieren lässt und uns den großen amerikanischen Dichter Longfellow und seine Dichterfreunde näherbringt. Die Handlung entwickelt sich überaus spannend und man wird mit zahlreichen Informationen aus der Zeit und dem Werk Dantes sowie mit dem Boston des 19 Jahrhunderts auf unterhaltsame Weise vertraut gemacht. Das richtige Buch für lange dunkle Winterabende.....und natürlich zu lesen im Original!

Links:

  1. Dantes 'Göttliche Kommödie' in deutscher Übersetzung, vollständiger Text bei Projekt Gutenberg (Übersetzung: Karl Steckfuß)

  2. Die Werke von Henry Wadsworth Longfellow, im Original bei Project Gutenberg

  3. Henry Wadsworth Longfellows Übersetzung von Dantes Göttlicher Kommödie bei Project Gutenberg

  4. Matthew Pearls Homepage

  5. Book Reviews zu 'The Dante Club' bei reviewsofbooks.com

  6. Buchrezension zum Dante Club aus der New York Times



sonstige Links:

Dienstag, 23. Oktober 2007

So schön wie nie zuvor - Zur Wiedereröffnung der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar

Morgen, am 24. Oktober 2007, dem Geburtstag ihrer Namenspatronin (dem 268. Geburtstag...), wird die Weimarer Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek feierlich wiedereröffnet. Der weltberühmte Rokoko-Saal erstrahlt in einem Glanz wieder, wie wohl nie zuvor seit seinem gut 200 jährigen Bestehen. Musste die Bibliothek erst niederbrennen, bevor sie in neuem Glanz erstrahlen kann....so fragt die ZEIT in einem Artikel vom 18.10.2007?
Drei Jahre sind vergangen, seit dem verherenden Brand, bei dem die Bibliothek und 60.000 ihrer Bücher schwer beschädigt wurden. 16.000 Bücher konnten bislang wieder hergestellt werden, aber um alle beschädigten Bücher wieder restaurieren bzw. wiederbeschaffen zu können, veranschlagen die Verantwortlichen bis zu 30 Jahre. Alleine 12,8 Millionen Euro hat die Renovierung und Wiederherstellung des Bibliothekgebäudes verschlungen, noch einmal 67 Millionen Euro sind für die Bücher von Nöten. Zwar gingen bislang über 17 Millionen Euro an Spenden ein, aber die Geldquelle drohen langsam zu versiegen.

Morgen ist es also soweit, und das Bibliotheksgebäude wird wiedereröffnet. Leider bin ich derzeit in Potsdam und kann der Veranstaltung nicht beiwohnen. Den neuen Rokoko-Saal hätte ich schon gerne mal in neuem Glanz bewundert. Aber das kann ich ja noch nachholen. Für alle die, die auch nicht dabei sein können, gibt es hier auf den Web-Seiten der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek einen virtuellen 3D-Rundgang, der die Bibliothek in all ihrer Schönheit vor dem Brand....als auch nach dem verheerenden Brand zeigt. Die Feierlichkeiten rund um die Wiedereröffnung stellt damit den Höhepunkt des Anna-Amalia-Jahres 2007, dem 200. Todestages der Herzogin, dar. Den Auftakt der Festwochen macht die Ausstellung "Candida Höfer: Weimarer Räume". Candida Höfer hatte 2004 vor dem Feuer den Rokokosaal fotografiert, der als einer der schönsten Bibliotheksräume in Mitteleuropa gilt.


Wenn man denn schon mal in Weimar ist und sich für die Bibliothek interressiert, sollte man sich auf alle Fälle auch den Bibliothekserweiterungsbau am Burgplatz 4 einmal ansehen. Der Bücherkubus mit seinen 100.000 Bänden der Freihandbibliothek bildet einen treffenden modernen Kontrast zum klassischen Rokoko-Saal.








siehe auch:

  1. "Von der Vergänglichkeit des gedruckten Wortes", in Biblionomicon vom 03.09.2007.

  2. Ch. Simes: "Musste sie erst brennen...?", die ZEIT, 18.10.2007

  3. E. von Tadden: Klassische Schönheit, Die ZEIT, 18.10.2007.

  4. M. Knoche: Eine Forschungsbibliothek des 21. Jahrhunderts - Die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, Bibliothek 27. 2003. Nr. 1/2.


Donnerstag, 11. Oktober 2007

Lost in Time..... - Audrey Niffenegger: Die Frau des Zeitreisenden

Science Fiction? Naja....eigentlich kommt diese Geschichte erst einmal überhaupt nicht als Science Fiction Geschichte daher. Sieht man einmal davon ab, dass der Protagonist tatsächlich ein Zeitreisender ist....


Henry DeTramble reist durch die Zeit, und zwar unfreiwillig. Ein seltsamer Chromosomendefekt ist dafür verantwortlich, dass er Situationen, in denen er sich nicht wohl fühlt, nervös oder aufgeregt ist, flieht, indem er nicht den Ort, sondern die Zeit wechselt. Ok, Zeitreisen gibt es in der Science Fiction Literatur schon lange. Allen voran natürlich H.G. Wells' 'Die Zeitmaschine', die wir alle zumindest aus den entsprechenden Verfilmungen kennen. Aber hier, in der vorliegenden Geschichte ist das Zeitreisen nicht unbedingt das Hauptanliegen. Vielmehr ist es die Liebesgeschichte zwischen Henry und Clare, die dank des Kunstkniffes der Zeitreise in keinster Weise linear, sondern in wunderbaren Windungen und Kreisen vor unseren Augen mehr und mehr Gestalt annimmt.

Doch zuvor einige technische Details zu Henrys Zeitreisen: Das erste Mal geschieht es während eines schweren Verkehrsunfalls, bei dem Henrys Mutter ums Leben kommt. Der gerade einmal 5-jährige Henry entflieht der Situation und dem sicheren Tod, indem er sich wenige Minuten entfernt am Straßenrand wiederfindet. Aber das erfahren wir erst später im Roman. Vielmehr beginnt die Geschichte mit dem ersten Treffen von Henry und Clare, wobei Clare noch ein kleines Kind ist und Henry bereits ein fast 40-jähriger Mann. Henry und Clare treffen sich immer wieder in unterschiedlichsten Altersvarianten, bis sie sich irgendwann auch im 'realen' Leben, d.h. in Henrys und Clares gemeinsamer Zeitebene kennenlernen und ein Paar werden. Dieses Aufeinandertreffen von zwei Liebenden im ständigen Durcheinander der jeweiligen Lebenszeit und -umständen, das ist es, was diesen Roman so unterhaltsam macht.

Zeitreisen sind ja eigentlich physikalisch unmöglich (außer man akzeptiert eine der Theorien des sogenannten 'Multiversums', d.h. man geht davon aus, dass es potenziell unendlich viele Universen gibt, in denen man dann jeweils landen kann), da die Kausalität, d.h. die Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei einer Reise in die Vergangenheit (aber auch in die Zukunft) nur allzu leicht auf den Kopf gestellt werden kann (erschießen Sie einfach ihren Großvater, bevor dieser Ihre Großmutter kennengelernt hat....was passiert dann mit Ihnen? werden Sie überhaupt geboren....und wenn nicht, wie konnten Sie dann ihren Großvater töten??). Dieses Problem wird im vorliegenden Roman recht einfach umschifft, da der Protagonist bei seinen Zeitreisen strikt dem Kausalitätsprinzip unterliegt, d.h. was bereits passiert ist, kann er nicht verändern, so sehr er sich auch bemüht.

Wie geht nun dieses Zeitreisen von statten? Ganz einfach. Henry befällt leichtes Unwohlsein und pfffft.....löst er sich auf und zurück bleiben nur seine Kleider. Völlig nackt kommt er dann in einer anderen Zeit (die von wenigen Ausnahmen abgesehen innerhalb seiner eigenen Lebensspanne liegt) an und sieht sich daher mit vielerlei praktischen Problemem konfrontiert. Das hört sich nicht ganz einfach an, irgendwo zu irgendeiner Zeit (z.B. auch im tiefsten Winter) völlig nackt, unvermittelt aufzutauchen. Ein Umstand, der Henry schließlich auch zum Verhängnis wird.

Doch im Mittelpunkt der Geschichte stehen diese beiden ungewöhnlichen Liebenden, Henry und Clare. Und diese Geschichte ist wirklich wunderbar erzählt! Einige Ungereimtheiten, die mit dem Zeitreisen und kausalen Zusammenhängen zu tun haben, bleiben meiner Ansicht nach zwar ungelöst, was dem Roman aber keinen Abbruch tut, vorallem, da es sich stets nur um Kleinigkeiten handelt. Mein Fazit: Der Roman bietet eine wirklich erfrischende (wenn auch am Ende sehr traurige) Liebesgeschichte in ungewöhnlichen Gewand und regt ob der Thematik sehr zum Nachdenken an. Selbst wenn Zeitreisen (und daher Science Fiction) bislang nicht auf Ihrem Lesezettel standen, kann ich Audrey Niffeneggers Roman nur allerwärmstens empfehlen und verspreche viele Stunden kurzweiligen und immer wieder überraschenden Lesegenuss!

Links:

  1. Die Frau des Zeitreisenden in Literaturschock

  2. A. Reinhardt: Wie zwei Königskinder - bei abebooks

  3. Th. Harbach: Die Frau des Zeitreisenden - bei sfradio



Literaturlinks zum Thema:


Leider sind viele klassische Zeitreisegeschichten (zumindest die wirklich guten) nicht mehr im aktuellen Programm der Verlage erhältlich und man ist auf Antiquariate angewiesen, so z.B.:

  1. Oswald Levett: Verirrt in den Zeiten, Suhrkamp, 1986

  2. Robert Silverberg (Hrsg.): Die Mörder Mohammeds, Heyne, 1970.

  3. Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Die sechs Finger der Zeit, Ed. Rencontre, 1980.

Mittwoch, 3. Oktober 2007

Der Untergeher hat Geburtstag - Glenn Gould zum 75.

Zu Lebzeiten hatte ich ihn noch gar nicht gekannt. Zwar lernt man als Klavierschüler Bachs 'Wohltemperiertes Klavier' und einiges aus den 'Goldbergvariationen', aber -- ganz ehrlich als Glenn Gould am 4. Oktober vor genau 25 Jahren starb, war er mir noch kein Begriff. Ohnehin hätte ich ihn niemals live erleben können, nachdem der Ausnahmepianist und Publikumshasser sein letztes öffentliches Konzert 1964, also noch vor meiner Geburt, gab. Ich glaube, der Hype, in dem ich ihn und sein Werk auch kennen lernte, begann erst richtig kurz nach seinem Tod 1982. Aber dann traf es mich mit Wucht......
Ich glaube, ich sah ihn in einer Fernsehdokumentation spätnachts, irgendwo auf einem dritten Programm. Seine eigenwillige Spielhaltung auf dem viel zu kleinen Stuhl, das Mitsummen und dieses vollkommene Aufgehen im eigenen Spiel. Erst Stücke aus dem 'Wohltemperierten Klavier', eigentlich nicht allzu kompliziert...aber diese messerscharfe Präzision mit der er sie spielte...unglaublich. Einmal so spielen können....

Aber ich war nicht der einzige Klavier-Afficionado, der durch Goulds virtuoses Können desillusioniert wurde. Dafür -- das war mir klar -- war ich sowieso nicht begabt genug. Ganz anders die angehenden Pianisten in Thomas Bernhards 'Der Untergeher'. Der Untergeher, das ist der Name, den Bernhard Glenn Gould gibt, da er der Grund für den Untergang so mancher vielversprechenden Pianistenkarriere darstellt. Der Ich-Erzähler und sein Freund die Titelfigur Wertheimer, beide Meisterschüler bei Wladimir Horowitz in Salzburg, geben ihr Streben nach Virtuosität, ihre noch gar nicht angebrochene Karriere und schließlich sogar ihr Leben auf, nachdem sie Glenn Gould spielen hörten...

Am 25. September wäre Glenn Gould, Kanadas Kulturexport Nr. 1, 75 Jahre alt geworden. Er hat nicht nur die Fachwelt polarisiert. Enthusiastische Anhänger auf der einen Seite, strikte Verächter auf der anderen. Gould war ganz Exzentriker. Als junger Mann pflegte er sein James Dean Rebellen-Image, das auf eindrucksvolle Weise im Fotobildband von Jock Carroll 'Glenn Gould: Some portraits of the artist as a young man' dokumentiert ist. Auf der Suche nach dem perfekten Klang, der perfekten Interpretation gibt er 1964 bereits seine Konzertlaufbahn auf und konzentriert sich auf die Möglichkeiten, die ihm Studiotechnik und Plattenaufnahmen nur bieten können. Dabei gefallen seine Interpretationen nicht allen. Zu kalt, zu steril sagen viele meiner Bekannten. Dafür weder schwülstig noch effekthascherisch, sondern klar, präzise, perfekt, das sagen die anderen. Letztendlich kann ja jeder selbst entscheiden, in welches Lager er eintreten möchte.
Kanada feiert ihn jetzt mit einem Glenn-Gould-Jahr und sogar in Berlin gibt es eine Glenn-Gould-Filmwoche (vom 2.-8. Oktober) unter dem Titel 'Being Glenn Gould', bei der seine 1955 Goldbergvariationen (die auch eindrucksvoll im 'Schweigen der Lämmer' zitiert werden) von einem digitalen Konzertflügel live aufgeführt werden. Das hätte ihm sicher gefallen. Perfekt reproduziert, ohne dass er sich dabei dem argen Publikum stellen muss...


Links:

  1. Glenn Gould Foundation Homepage

  2. Glenn Gould Website (Sony) mit Klangbeispielen

  3. Glenn Gould Radio Broadcasts

  4. Artikel zu Glenn Gould aus der Encyclopedia of Music in Canada mit Videoclips und Musik

  5. Wer Bach spielt, sündigt nicht, Artikel von Wolfgang Goertz, die ZEIT 46/2006



Montag, 1. Oktober 2007

Barocker Bildungsthriller - Monaldi & Sorti: Imprimatur

Imprimatur - [lat.] es darf gedruckt werden (wörtlich: es werde gedruckt)....und zwar mit Erlaubnis der Kirche. Bücher, denen dieses Siegel päpstlicher Zustimmung versagt blieb, gelangten schon mal auf den Index (=Index Librorum Prohibitorum), der übrigens bis in das Jahr 1966 (nach dem 2. Vatikanischen Konzil) bestand, bis er von Papst Paul VI. eingestellt wurde. Ob das vorliegende Buch gedruckt werden darf oder nicht (also ob es das begehrte 'nihil obstat' erhält odr nicht), um diese Frage dreht sich auch die Rahmenhandlung in Monaldis & Sortis barockem Spektakel 'Imprimatur'.
Es geht darum, ob ein unveröffentliches Werk eines Autorenpärchens (eben eine Selbstreferenz auf die Autoren), das dem mit den Autoren befreundeten Bischof von Como zugespielt wurde, nach vielen Jahren (und nach dem mysteriösen Verschwinden der Autoren) doch noch in den Druck gehen soll, da die darin vorgelegten Fakten das anberaumte Heiligsprechungsverfahren des barocken Papstes Innozenz XI. -- sollten sie sich denn bewahrheiten -- entgegenstehen. In Form von Briefen gerichtet an die Kongregation für die Heiligsprechung schildert der Bischof von Como den Fall und die Geschichte des Buches. Das belastende Buch selbst sei entstanden aus er Recherche der Autoren, denen eine bislang verschollene Originalquelle -- eben das hier vorliegende Buch im Buch --- zu Grunde liegt.
Also mal wieder eine Referenz auf eine Referenz, die referenziert...Derartige Kunstgriffe von Autoren sind wir ja schon gewohnt. Umberto Ecos 'Name der Rose' kommt in ähnlicher Weise daher und weist zudem noch viele weitere Parallelen zum vorliegenden Roman auf.

Es dreht sich also um eine Geschichte aus dem 17. Jahrhundert. Wir schreiben das Jahr 1683. Die Türken stehen vor dem belagerten Wien, der Kaiser ist aus der Stadt geflohen, und die Christenheit sieht bange dem vermeintlichen Fall der Feste Europas entgegen. Wir befinden uns in Rom. In einer Herberge stirbt einer der Gäste und aus Angst vor der Pest wird diese samt ihrer Gäste unter Quarantäne gestellt. Den Kern der Geschichte bilden die 9 Tage und Nächte der Quarantäne und das Schicksal ihrer Bewohner. Abbé Melani -- Kastrat und Geheimagent im Auftrag des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. -- beginnt mit Hilfe des Hausburschen mit der Aufklärung des Todesfalls, der ungeahnte Kreise zieht. Wir steigen hinab in das Labyrinth der römischen Katakomben und Kanäle und geraten in ein Netz aus politischen und kirchlichen Intrigen, von denen das Schicksal Europas und der Welt abhängen.

Der unterhaltsam und abwechslungsreich geschriebene Roman birgt zahlreiche Parallelen zu klassischen und modernen Kriminalromanen. Das Gespann Abbé Melani und Hausbursche (der bis zum Ende des Romans eigentlich ohne Namen bleibt, obwohl er der Autor der dem Buch zugrunde liegenden Momoiren ist) ähnelt schon zu sehr William von Baskerville und Adson von Melk (Umberto Eco), Sherlock Holmes und Watson (Arthur Conan Doyle), oder Hercule Poirot und Hastings (Agatha Christie), aber es funktioniert. Die Einheit des Ortes in der klaustrophobischen Herberge ähnelt der Abgeschiedenheit des Klosters (Eco) oder der Enge des Zuges oder Kreuzfahrtschiffes (Agatha Christie). Die Einteilung in 9 Tage und Nächte lässt an Boccaccios 'Decamerone' denken, in dem sich die in der Rahmenhandlung agierenden Personen auf der Flucht vor der Pest in eine selbstauferlegte Klausur begeben (sic!). Selbst die beiden etwas kruden 'Heiligenfledderer' aus der Welt der römischen Katakomben mit ihrem Sprachkauderwelsch und Verbalhieroglyphen zitieren den unter babylonischer Sprachverwirrung leidenden Salvatore aus dem 'Namen der Rose'. Dazu gibt es noch jede Menge historischer Tatsachen und Persönlichkeiten (Ludwig XIV., Papst Innozenz XI., Foucuet, Colbert, Athanasius Kircher [dieser ist übrigens eine bemerkenswert schillernde Persönlichkeit als Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts, den fast nur noch Newton und Leibnitz den Rang ablaufen können], uvm.), die in eine Art Verschwörungstheorie eingebunden werden (-> siehe Dan Brown, etc.). Da ich kein Historiker bin, kann ich natürlich nicht nachprüfen, inwiefern sich die zitierten Fakten tatsächlich auf Tatsachen beziehen und wo die Grenze zur Fiktion überschritten wird. Aber Rita Monaldi leistet als klassische Philologin gute Arbeit und versteht es, auch die trockenen politischen Zusammenhänge auf unterhaltsame Art und Weise darzustellen.
Sehr schön dabei sind übrigens literarische Cameos, die mir in dieser Form bislang noch nicht aufgefallen waren. So kommen in dem im 17. Jahrhundert spielenden Teil der Handlung deutliche Referenzen auf René Magritte (Ceci n'est pas une pipe), die französische Revolution ('sans culottes') und sogar auf Jean Cocteau bzw. dessen Zitat im Film 'Bladerunner' (Alle Dinge, die man erlebt, werden verloren gehen in der Zeit, wie eine Träne im Regen....). Sehr schön!! So kommt auch der Bischoff von Como in seinem Brief an die Kongregation für die Heiligsprechung zu dem Schluss, dass "Bücher immer von anderen Büchern sprechen und jede Geschichte eine bereits erzählte erzählt..."

Fazit: Das über 700 Seiten starke Buch birgt pures Lesevergnügen, insbesondere, wenn man auf o.a. Cameos und Referenzen stößt. Der Erzählstrang der Haupthandlung ist sequentiell, die einzelnen Kapitel umfassen dabei jeweily einen Tag bzw. eine Nacht und heben sich dadurch dankenswerterweise von den 'Mikrokapiteln' der schnell geschnittenen Millionenseller á la Dan Brown ab. Nichts desto trotz erlauben sich die Autoren mitunter barocke Aus- und Abschweifungen (für Freunde der gepflegten Fußnoten: es gibt noch einmal knapp 40 Seiten mit historisch überaus interessanten Anmerkungen) -- aber die sind angesichts der Epoche, in der die Handlung spielt, authentisch ;-)

Links:

  1. Leben und Werk des Athanasius Kircher (1602 - 1680)

  2. P. Hertel: Ende des Denkverbots für Katholiken - Vor 40 Jahren hob der Vatikan seine Bücherverbotsliste auf, Kalenderblatt vom 14.06.2006, deutschlandfunk.

  3. englische Zusammenfassung von Monaldi / Sorti: Imprimatur, bei www.attomelani.net

  4. Die christlichen Katakomben von Rom